Buchvorstellung – »Vom Elefanten, der das Tanzen lernte«

»Interessanter Fall von Etikettenschwindel
Vom Elefanten, der das Tanzen lernte: Mit dem Rucksack durch Indien. Das steht auf dem Cover drauf – und dennoch hat das Buch mit beidem absolut nichts zu tun. Es geht hier weder um einen Elefanten (ja ja, ich weiß, das Land Indien wird mit einem Elefanten verglichen), noch geht es um Rucksackreisende. Der Autor ist ein versierter Journalist, der hier aus der Sicht eines Journalisten berichtet – es geht vor allem um Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Geschichte. Mit einer Rucksackreise hat das absolut gar nichts zu tun. Über die Person des Reisenden erfährt man praktisch nichts. Immerhin – wer sich einen Überblick über die Gesellschaft Indiens im Allgemeinen machen will, kann hier durchaus viel für sich herausziehen. Das Buch ist also nicht grundsätzlich schlecht – der Titel ist nur irreführend. Ein billiger Marketingtrick des Verlages. Schade, so verärgert man seine Leser und schadet dem – durchaus seriösen – Autor.
«

Wie ihr euch schon gedacht habt, gehöre ich zu denen, die voll auf das Marketing angesprochen haben – der Rüssel-hoch-Elefant auf dem Cover hatte natürlich prompt meine Aufmerksamkeit erregt 😉

Die Rezension zu dieser Indienreportage in Buchlänge (335 Seiten) vom schwedischen Journalisten Per J. Andersson fasst gut den Inhalt des Buches Vom Elefanten, der das Tanzen lernte: Mit dem Rucksack durch Indien zusammen, der sich aus Cover samt Titel tatsächlich nicht so gut erschließen lässt. Doch der Verlag C. H. Beck, München, hat 2019 einfach nur das erfolgreiche Coverkonzept der vorausgegangenen Bücher weiterverfolgt, die zu Bestsellern geworden sind: Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr…: Eine wahre Geschichte (2015) und Vom Schweden, der die Welt einfing und in seinem Rucksack nach Hause brachte: Reisen in die Ferne und zu sich selbst (2018).

Indien ist also der Elefant, der das Tanzen lernte. Ihr könnt ja mal reinhören, wie es klingt, wenn ein Elefant tanzt. Das gibt schon mal ein bisschen Elefanten-Feeling. Und wer ein bisschen Rucksack-Feeling braucht, für den habe ich die Buchvorstellung – »Frühstück mit Elefanten«. Was für ein Feeling der Journalist Per J. Andersson suchte, als er zum ersten Mal nach Indien reiste, beschreibt er so: »Ich wollte etwas erleben, das in seinem Kern so weit wie möglich von meinem Heimatort und meinem Alltag entfernt war … Hinterm Horizont wartete das Leben. Je entfernter, desto interessanter und lebendiger, davon war ich überzeugt … ich floh vor dem Gefühl, festzusitzen und nicht loszukommen. Nach dem Trip nach Kairo ging ich deshalb noch weiter auf der Jagd nach dem elektrisierenden Gefühl der Gegenwart … meine Flucht vor dem Sicheren, Ordentlichen und gut Organisierten schien mir zu gelingen …«

Es sind indische Leitartikler, die Indien immer wieder mit einem Elefanten vergleichen: »groß, klobig und langsam«. Das scheint die gängige Vorstellung von Elefanten zu sein. Vielleicht wäre manch einer genauso überrascht wie der Wissenschaftler John Hutchinson, von dem ich in Elefantöses – Auf leisen Sohlen berichtete. Er beobachtete, wie Elefanten bei höheren Geschwindigkeiten ihren schweren Körper so gelenkig vorwärtsbewegten, als wären Sprungfedern an ihren Hinterfüßen befestigt.

Jedenfalls schrieben indische Journalisten, dass jetzt Schluss sei, mit dem gemächlichen Trott des indischen Elefanten. Jetzt, so schrieb wohl die Times of India, habe der Elefant das Tanzen gelernt. Per J. Andersson, der Indien intensiv bereist hat, teilt diese Ansicht in seinem Buchkapitel Elefantenritt in die Zukunft: Indien habe sich binnen weniger Jahrzehnte von einem hilfsbedürftigen Entwicklungsland mit wiederkehrenden Hungerkatastrophen in eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt verwandelt.

Ich muss zugeben, erst durch dieses Buch ist mir so richtig bewusst geworden, wie sehr sich die Rolle Indiens auf der Weltbühne geändert hat, nachdem am 15. August 1947 – nach etwa 200 Jahre andauernder britischer Vorherrschaft – die Unabhängigkeit erklärt wurde. Gemäß einem britischen Wirtschaftsblatt, so heißt es im Buch, müssten die Zukunftsaussichten für krisengeschüttelte europäische Unternehmen wie folgt eingeschätzt werden: »Mumbai, Shanghai, Dubai – or Goodbye.« Per J. Andersson erklärt: »Was heißen sollte: Entweder werdet ihr von asiatischen Industriekonzernen aufgekauft – oder ihr geht in Konkurs.«

Mumbai (früher Bombay vom Portugiesischen bom bahia = schöne Bucht), von Andersson als Stadt des Fortschritts und der Träume bezeichnet, liegt an der indischen Westküste. Die Chance, in der größten Stadt Indiens – dem Finanzzentrum Indiens sowie dem Zentrum der indischen Bollywood-Filmindustrie – einen Job zu finden sei groß, jedoch die Chance, eine Behausung zu finden, sei minimal. Fast die Hälfte der Einwohner würden in Slums leben, in einem Karton auf der Straße oder auf dem Fußboden in einer Ecke ihres Arbeitsplatzes.

Ein indischer Geschäftsmann sagte über seine Stadt: »Bombays Enge ist die Ursache ständiger Konflikte, doch alle, die Armen wie die Reichen, haben eines gemeinsam, das uns zu Brüdern und Schwestern macht: die Hoffnung, das Glück einzufangen.«
So ähnlich lautete auch die Antwort des ersten indischen Premierministers Jawaharlal Nehru auf die Frage, wie er Indien beschreiben würde: »Eine Ansammlung von Gegensätzen, die von starken, aber unsichtbaren Fäden zusammengehalten werden.«
Der Journalist Per J. Andersson: »Indien wurde ein säkularisierter Staat und ein Regenbogenland. Hindus, Muslime, Sikhs, Jainisten, Buddhisten, Christen, Parsen. Alle sind vor dem Gesetz gleich … eine multikulturelle Erfolgsgeschichte.«

Andersson schreibt weiter, dass die Hälfte der Stadtbewohner des großen Landes Indiens immer noch ihr zu Hause verlassen muss, um Wasser aus Brunnen oder öffentlichen Wasserhähnen zu holen. Ein Viertel von ihnen hätte keinen Zugang zu einer Toilette.
Auf der anderen Seite stehen Fakten wie:

  • Indien ist in der ganzen Welt bekannt für seine Computerindustrie. Es gehört zu den Ländern mit den meisten Programmierern der Welt.
  • Indien hat die größte Gewinnung von Diamanten.
  • Indische Unternehmen dominieren die globale Stahlindustrie.
  • Indien hat das größte Eisenbahnnetz. Indian Railways ist der größte Arbeitgeber der Welt. Bis vor kurzem hoben Arbeitselefanten auf den Rangierbahnhöfen Waggons umher.
  • Das indische Ayurveda war das erste systematische Medizinwissen der Welt.
  • Indien ist der weltgrößte Produzent von Milch, Butter, Mangos, Tee, Jute, Kokosnüssen, Cashewnüssen, Traktoren, Lederwaren, Obst und Gemüse …
  • … ihr merkt schon: der indische Elefant tanzt 😉

Sehr schmuck wirken übrigens die kleinen Elefantenzeichnungen über jeder Kapitelüberschrift. Solche geschmückten Elefanten begleiten manchmal bei religiösen Festen Tausende Pilger, wenn diese ihre Götterfiguren auf Holzwagen auf dem Tempelgelände oder auf den Straßen ringsum fahren, begleitet von geräuschvollen Orchestern und sprühenden Feuerwerken. Neben den Tempelelefanten sieht man auch heilige Kühe in den Tempeln und auf den Straßen, wo sie sogar vor dem Verkehr Vorrang haben. Einzigartig indisch ist auch der abendliche Gottesdienst, jahrein, jahraus, mit klingelnden Glocken und brennenden Feuern zu Ehren des Flussgottes Ganges, an dem Tausende Zuschauer teilnehmen, viele in Booten.

Shiva (Glückverheißender) ist einer der Hauptgötter der Hindus. Vor der Küste Bombays, auf der nahen Insel Elephanta (so benannt, weil die Portugiesen im 16. Jahrhundert im Hafen einen steinernen Elefanten fanden,) befinden sich alte Höhlentempel, die hauptsächlich dem Hindugott Shiva geweiht sind. Sein Sohn Ganesha, ebenfalls ein Glücksgott, wird mit einem Elefantenkopf dargestellt. Ihn meint der Autor, wenn er von »vielarmigen Göttern mit Rüsseln« erzählt. In meinem Blogartikel Elefantöses – Glück auf! findet ihr noch mehr über den zu den beliebtesten indischen Göttern zählenden Elefantengott.

Das Buch enthält eine Fülle kleiner, interessanter Details, die mein Wissen über Indien sehr erweitert haben. Eingestreut waren auch bizarre Anekdoten, beispielsweise ein Interview mit einem ehemaligen Großwildjäger, Besitzer eines Tisches aus einem Elefantenohr, das auf einem Rüssel balanciert, der sich selbst und seine Ahnen als Umweltschützer sieht, oder die Hundehochzeit eines spleenigen Maharatschas, bei der 250 Hundegäste in mit Edelsteinen eingefassten Brokatdecken auf geschmückten Elefanten einritten. Nebenbei habe ich erfahren, dass eingedeutschte Wörter wie Karawane, Dschungel, Bungalow, Pyjama, Shampoo etc. ihren Weg aus dem Hindi, der Amtssprache Indiens neben dem Englisch, zu uns gefunden haben.

Ein letztes Zitat aus der umfassenden Indienreportage von Per J. Andersson möchte ich euch nicht vorenthalten. Es stammt von dem Inder, von dem wohl die meisten von uns schon gehört haben, vom indischen Freiheitskämpfer Mahatma Ghandi. Er hielt nichts von dem Vergeltungsprinzip »Auge um Auge, Zahn um Zahn« in blinder Wut, sondern vertrat eine gewaltfreie Philosophie. Denn – so lautete sein Credo: »Auge um Auge macht die ganze Welt blind.« Das Erlernen dieser »Tanzschritte der Gewaltlosigkeit«, insbesondere Frauen und Mädchen gegenüber, fällt dem Elefant Indien noch sichtlich schwer.

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