Buchvorstellung – »Geh, wohin dein Herz dich trägt«

Cover fürs Buch »Geh, wohin dein Herz dich trägt«

Geh, wohin dein Herz dich trägt, Diogenes Verlag, Zürich 1998, war der Lieblingsroman meiner Cousine Silvia, wie sie uns in ihrem Buch Abenteuer Leben oder Wie ich ein kleiner Bergsteiger wurde verriet. Den Titel dieses Briefromans hat sie zu ihrem Lebensmotto gemacht. Genau wie die Berge einen Menschen rufen können, so ruft auch die Stimme unseres Herzens, die in dem 192-seitigen Bestseller-Roman Geh, wohin dein Herz dich trägt im Vordergrund steht.

Der Autorin Susanne Tamaro, 1957 in Triest (Italien) geboren, ist es gelungen, die Lebensgeschichte einer sterbenskranken 80-jährigen Frau auf berührende Weise zu Papier zu bringen – in Form eines Brieftagebuchs nimmt sie von ihrer Enkelin Abschied, die aus der familiären Enge in Italien nach Amerika geflüchtet ist,

Während Olga im Zeitraum vom 16. November bis zum 22. Dezember 1992 schöne, aber auch viele schmerzliche Erinnerungen ihres Lebens niederschreibt, ziehen drei Generationen in der Vorstellung der Leser vorbei: Olga, die lange in einer Vernunftehe gefangen war, Olgas Tochter Ilaria, die ein Kind, aber nicht den Vater in ihrem Leben haben wollte, deren tödlicher Autounfall, und schließlich Ilarias Tochter, die dadurch im Kindergartenalter zu einer Vollwaise wurde und fortan von ihrer Oma Olga großgezogen wurde.

Die Liebe der Großmutter zu ihrer Enkelin spricht aus jeder Zeile des Brieftagebuchs: »Bist du glücklich? Das ist es, was mir vor allem anderen am Herzen liegt.« (S. 22) Natürlich wäre es viel besser, wenn Menschen, die im Generationenstreit auseinandergegangen sind, sich persönlich aussprechen könnten, bevor einer von ihnen diese Welt verlassen muss. Doch falls das nicht geht, ist vielleicht so ein Brieftagebuch die zweitbeste Möglichkeit, den Angehörigen doch noch das eine oder andere zu hinterlassen, was auf dem Herzen liegt. Oder unter den Nägeln brennt, denn der Tagebuchroman ist vor allem eines: ein Geständnis, das sie ihrer Enkelin bezüglich ihres Großvaters macht.

Olga verschweigt ihre Enkelin nicht die Stimme in den dunklen Winkeln ihres Herzens, ihre Gedanken an den Freitod, weil sie sich seelisch unterdrückt fühlte, und ihre große Sehnsucht nach der Freiheit, das zu tun, wonach ihr der Sinn stand. Es sind insbesondere die vielen Vergleiche, welche die Gefühle der Großmutter so gut veranschaulichen, dass ihr Handeln verständlich wird – beispielsweise dass sie sich »einsam durchs Haus bewege wie ein Fisch in seinem runden Kristallglas.« (S. 85)

Auch wenn (oder vielleicht gerade weil) der Roman gedanklich keinen roten Faden zu haben scheint, sondern sich die Gedanken sozusagen gegenseitig wegschubsen, um als nächster herauskommen zu dürfen, vermag dieser Briefroman fern von gedanklicher Logik oder zeitlicher Reihenfolge auf die Ebene der Gefühle zu bringen und das Herz zu berühren. Die Briefe entstehen ganz spontan aus dem Moment heraus. Völlig offen und ehrlich offenbart die Großmutter ihre Irrwege, Versäumnisse, »kleine häusliche Höllen« (S. 124) und nicht zuletzt ihre große Lebenslüge. Ich konnte so gut mitfühlen, als ich las: »Es gab nichts, das mich aus meiner Benommenheit aufrütteln konnte, in einer einzigen, einförmigen und farblosen Abfolge sah ich meine Jahre eines nach dem anderen verstreichen bis zum Tod.« (S. 128)

Der Zauber einer glücklichen Erinnerung an ihre große Liebe streift die Großmutter, welche sie damals aufblühen ließ, und auch an die daraus gewonnene Erkenntnis, dass nichts im Leben ganz schwarz oder ganz weiß ist und sich jede Farbe in vielen Schattierungen zeigen kann. Auf einmal geht es in diesem Brieftagebuch um Selbsterkenntnis, um das eigene Bewusstsein und den Seinszustand, um die Fähigkeit, die eigene Mitte zu finden – schlussendlich darum, dass etwas in einem singt, nämlich die Stimme des eigenen Herzens. Wie diese innere Stimme hörbar werden kann, ist die wichtigste Lebensweisheit, welche die Großmutter angesichts ihres nahenden Todes an ihre Enkelin weitergeben möchte:

»Und wenn sich dann viele verschiedene Wege vor dir auftun werden, und du nicht weißt, welchen du einschlagen sollst, dann überlasse es nicht dem Zufall, sondern setz dich und warte. Atme so tief und vertrauensvoll, wie du an dem Tag geatmet hast, als du auf die Welt kamst, lass dich von nichts ablenken, warte, warte noch. Lausche still und schweigend auf dein Herz. Wenn es dann zu dir spricht, steh auf und geh, wohin es dich trägt.« (S. 190)

Ein tiefsinniger Roman, der mich – um die Sechzig herum und im Bewusstsein, das der Weg, der hinter mir liegt, länger ist, als der, der noch vor mir liegt – zum Nachdenken angeregt und in mir den Wunsch bestärkt hat, dem treu zu bleiben, was ich in meinem Herzen fühle, wohin auch immer es mich tragen wird.

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