Elefantöses – Ein Gedächtnis wie ein Elefant

In ihrem Kriminalroman »Elefanten vergessen nie« lässt Agatha Christie eine der ermittelnden Hauptfiguren – die Krimiautorin Mrs Oliver – ihre Romanidee erklären: »Elefanten vergessen nie. Das war die Idee, mit der alles anfing. Die Menschen können sich an Dinge erinnern, die weit zurückliegen, genau wie die Elefanten. Nicht alle Menschen selbstverständlich, aber normalerweise können sie sich wenigstens an etwas erinnern.«

Gedächtnis ist die Fähigkeit, etwas Gelerntes, Eindrücke und Ereignisse dauerhaft im Gehirn zu speichern. Im impliziten Gedächtnis liegen sämtliche Informationen der Wahrnehmung, die nicht unser Bewusstsein erreicht haben, und auch prozedurale Informationen wie Treppen steigen oder Fahrrad fahren. Das explizite Gedächtnis besteht aus dem semantischen Gedächtnis, welches Fakten, Informationen und Kenntnisse speichert, sowie aus dem episodischen Gedächtnis, welches alle persönlichen Erlebnisse und die zugehörigen Emotionen speichert. Manche Menschen können sich noch nach Jahren detailreich an eine bestimmte Begebenheit erinnern, sogar an Nebensächlichkeiten. Dann sagen wir, sie hätten »ein Gedächtnis wie ein Elefant«. Doch wie viel ist dran an dem berühmten Gedächtnis eines Elefanten, das wir alle gern hätten?

Haben Elefanten tatsächlich ein ungewöhnlich gutes Erinnerungsvermögen?

Die Verhaltensforscherin Marion East vom Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja: »Alle Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass diese Tiere wirklich ein sehr gutes Gedächtnis haben. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Sie sind darauf angewiesen, um zu überleben.«

Ein Beispiel: Die meisten von uns können sich wahrscheinlich noch gut daran erinnern, in welchem Jahr sie in die Schule gekommen sind. Die wenigsten von uns wissen allerdings noch, wer alles in der gleichen Klasse war. Wem jetzt dennoch der Name jedes Einzelnen aus seiner Klasse einfällt bzw. wer auf einem Klassentreffen nach vielen Jahren keine Schwierigkeiten hat, alle Anwesenden spontan namentlich wiederzuerkennen und korrekt einzuordnen, der hat definitiv ein Elefantengedächtnis. Für Elefanten ist das nämlich kein Problem. Sie können sich tatsächlich besser an Vergangenes erinnern als Menschen. Marion East erklärt das so: »Das liegt daran, dass sich der Mensch fast ausschließlich auf seine Augen verlässt. Ein Elefant setzt dagegen vor allem auf seine Ohren und seinen Rüssel und nur zu einem geringen Teil auf seine Augen.«

Es sind insbesondere zwei Faktoren, die ein solches Elefantengedächtnis fast zwingend erforderlich machen: ihre lange Lebenserwartung, die der menschlichen Lebenserwartung von durchschnittlich 80 Jahren entspricht, und die ungewöhnliche Gesellschaftsstruktur der Elefanten, die nicht ständig zusammenbleiben. Die Elefantengruppen trennen sich immer mal wieder. Es ist daher sehr von Vorteil, wenn sie sich sofort anhand von Lauten und Gerüchen wiedererkennen.

Gerüche und Laute sind eng an das Elefantengedächtnis gekoppelt. In meinem Beitrag »Vor welchen Tieren haben Elefanten einen Heidenrespekt?« habe ich beispielsweise darüber berichtet, dass Elefanten aufgrund schmerzhafter Erfahrungen in der Vergangenheit sofort nervös werden und flüchten, wenn sie Bienen brummen hören. Und die Verhaltensforscherin Karen McComb von der Universität von Sussex in Brighton konnte an 48 in Kenia lebenden Elefantenherden nachweisen, dass sie Angehörige unterschiedlicher Stämme an der Sprache unterscheiden können. Sie können sogar erkennen, ob es ein Kind, ein Mann oder eine Frau ist, und vor allem, ob diese Person gefährlich für sie ist, wie zum Beispiel männliche Massai, die manchmal Jagd auf Elefanten machen.

Karen McComb erklärt: »Die menschliche Stimme enthält sehr viele Informationen über den Sprecher. Elefanten können sie deshalb als frühes Warnsystem nutzen: An der Sprache können sie schon von Weitem erkennen, dass sich da ein Massai nähert. Dadurch sparen sie Energie, denn sie müssen nicht jedes Mal aufhören zu fressen und weglaufen, wenn sie einem Menschen begegnen, sondern nur, wenn es wirklich notwendig ist.«

Eine große Gedächtnisleistung erbringen die Tiere auch, indem sie sich in großen Gebieten von mehreren hundert Quadratkilometern räumlich orientieren und sich merken können, wo es Wasserstellen gibt. Ein Elefant, der als Kalb an eine Wasserstelle geführt wurde, findet diese auch Jahrzehnte später problemlos wieder, selbst wenn er diesen Weg nur einmal gegangen ist. Verhaltensforscher nennen dieses hervorragende Ortsgedächtnis »Mapping«, also eine Art Landkarte für überlebenswichtige Ressourcen, die im Gedächtnis eines Elefanten gespeichert ist. Mit GPS-Sendern ausgestattete Elefanten liefen aus nahezu jeder Position heraus den jeweils kürzesten Weg zur nächsten Wasserstelle, ohne die Richtung korrigieren zu müssen. Der Verhaltensforscher Leo Polansky von der Colorado State University stellte fest: »Unsere Analysen deuten darauf hin, dass Elefanten die räumlichen Gegebenheiten ihres Lebensraumes in Bezug auf ihre momentane Position sehr genau kennen.«

Lässt sich aufgrund von Gedächtnisleistung eine Aussage über Intelligenz treffen?

Der Psychologe Raymond Bernard Cattell unterscheidet zwei Komponenten unserer Intelligenz: die fluide und die kristalline Intelligenz.

Die genetisch bedingte fluide Intelligenz ist die Voraussetzung für das Lernvermögen in jungen Jahren. Sie umfasst die Geschwindigkeit und Genauigkeit der Informationsverarbeitung (Fähigkeit, eine Situation zu begreifen, Schlussfolgerungen zu ziehen und ein Problem zu lösen), welche vor allem zur Aneignung von Wissen genutzt werden kann. Gleichzeitig verknüpft die kristalline Intelligenz, die auch soziale Kompetenzen umfasst, dieses Wissen, so dass mit der Zeit ein großer Gedächtnisschatz aus den mit Faktenwissen verknüpften und gesammelten Erfahrungen entsteht. Man spricht auch von Altersweisheit.

Während die fluide Intelligenz stetig abnimmt, kann die kristalline Intelligenz durch Üben weiter anwachsen und die Abbauprozesse des Gehirns verlangsamen. Üben heißt, dafür zu sorgen, dass gezielt neue Synapsen (neuronale Verknüpfungen) im Gehirn gebildet werden. Üben heißt, interessiert und mit offenen Augen durch das Leben zu gehen, sich weiterzubilden – sei es seinen Horizont durch Reisen zu erweitern oder durch den Erwerb neuer Fähigkeiten wie ein Instrument zu spielen, Tanzen oder eine neue Sprache zu lernen, sich in ein Hobby zu vertiefen und vieles andere mehr. Schon Jean-Jacques Rousseau soll gesagt haben: »Die Jugend ist die Zeit, die Weisheit zu lernen. Das Alter ist die Zeit, sie auszuüben.«

»Elefanten sind uns kognitiv viel ähnlicher, als man bisher erkannt hat. …

… Das versetzt sie in die Lage, unsere charakteristische Art zu verstehen, mit der wir durch Zeigen auf Dinge in der Umgebung aufmerksam machen«, meint Richard Byrne von der University of St Andrews in Schottland. Er war überrascht, dass etwa zwei Drittel der elf Afrikanischen Elefanten ohne Training den Fingerzeig auf einen von zwei Eimern, von denen nur der eine mit Futter gefüllt war, sofort verstanden. Diese intelligente Reaktion führt er darauf zurück, dass Elefanten in einem komplexen sozialen Miteinander leben und dabei untereinander auch mit ihrem Rüssel kommunizieren. Forschungen zum Elefantengedächtnis zeigen zudem, dass Elefanten die Fähigkeit haben, Werkzeuge herzustellen, wie zum Beispiel Bürsten aus Ästen, und solche Werkzeuge zudem bei Bedarf in Kooperation verwenden, um an Futter zu gelangen. Es ist also wahr: Elefanten sind intelligente Tiere und haben ein besonders gutes Gedächtnis. Das stimmt mit der neurologischen Diagnostik bei Elefanten überein, die ungewöhnlich große Schläfenlappen zeigt.

Doch in dem Sprichwort »Elefanten vergessen nie« steckt noch viel mehr.

Genauso wie sich Elefanten an Menschen erinnern, die gut zu ihnen waren, genauso erinnern sie sich auch an Menschen, die ihnen etwas angetan haben. In Agatha Christies Krimi fragt Mrs Oliver den Detektiv Hercule Poirot:

»Kennen Sie die Geschichte, die man den Kindern immer erzählt? Jemand, ein indischer Schneider, stach eine Nadel oder so was Ähnliches in den Stoßzahn eines Elefanten. Nein. Nicht in den Stoßzahn, in seinen Rüssel natürlich, in den Elefantenrüssel. Als der Elefant mal wieder vorbeikam, hatte er das Maul voll Wasser und spritzte den Schneider nass. Obwohl er ihn jahrelang nicht gesehen hatte! Er hatte nicht vergessen. Er erinnerte sich. Das ist es, sehen Sie! Elefanten erinnern sich. Was ich jetzt tun muss … Ich muss auf Elefantensuche gehen.«

Elefantengedächtnis also im Sinne von »das werde ich dir nie vergessen« – sowohl im positiven als auch im negativen Sinne?

Der bekannte Elefantenforscher Fred Kurt hätte sicherlich zugestimmt. Er erzählte in einem Interview mit der Tageszeitung »Die Welt«: »Ich war dabei, als einem Pfleger der Arm gebrochen wurde von einem Ast, der plötzlich aus Richtung des Bullen angeflogen kam. Das Tier mochte den Pfleger nicht. Vielleicht hatte der ihn vor Monaten oder vor Jahren schlecht behandelt. Elefanten können warten, bis der Zeitpunkt gekommen ist. Dann rächen sie sich.«

Daphne Sheldrick, die als »Mutter der Elefanten« bekannt wurde, war der Ansicht: »Bei Elefanten erntet man, was man sät. Behandelt man sie gut, erwidern sie dies mit Liebe. Ist man grausam zu ihnen, dann mit Aggression.« Daphne Sheldrick kümmerte sich um traumatisierte Elefantenwaisen, die den Schock über den Verlust der Familie hautnah miterleben mussten. Da Elefanten einen sehr ausgeprägten Familiensinn und ein Verständnis für den Tod eines Herdenmitglieds haben, kann die Trauerphase viele Monate dauern. Nur mit viel Liebe und Mitgefühl der Pfleger, die sie rund um die Uhr betreuen, schöpfen die kleinen Elefanten wieder Vertrauen und können dann langsam wieder ausgewildert werden. Sehr interessant finde ich, dass sogar seit langer Zeit ausgewilderte Elefanten immer wieder zurückkommen, um die Menschen zu begrüßen, die ihnen geholfen haben. Denn – Elefanten vergessen nie.

Poirot sah sie einen Augenblick schweigend an, dann meinte er zu Mrs Oliver: »Wir müssen nach London zurückfahren. Zurück in den Alltag und diese Tragödie […] vergessen.«»Elefanten vergessen nie«, sagte Mrs Oliver, »aber wir sind Menschen, und Menschen können gottlob vergessen.«

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