Fotoausflug Retro – Pfaueninsel (2012)

Das Zukünftige nimmt ab, das Vergangene wächst an,
bis die Zukunft verbraucht und das Ganze vergangen ist.

Augustinus

»Die Pfaueninsel in der Havel bei Potsdam, Rückzugsort der Preußenkönige, wurde im 19. Jahrhundert von Lenné und Schinkel unter Mithilfe des Hofgärtners Fintelmann zu einem künstlichen Paradies umgestaltet. Es gab Känguruhs dort und einen Löwen, Palmen und Götterbäume, einen Südseeinsulaner, einen Riesen, Zwerge und Mohren. Thomas Hettche lässt diese vergessene Welt wieder auferstehen, in deren Mittelpunkt er die kleinwüchsige Marie stellt, das historisch belegte Schlossfräulein der Pfaueninsel. Von ihrem Leben und unseren Vorstellungen von Schönheit erzählt sein Roman, von der Zurichtung der Natur und unserer Sehnsucht nach Exotik, von der Würde des Menschen, dem Wesen der Zeit und von einer tragischen Liebe.«

So lautet der Klappentext des Romans Pfaueninsel, Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2014, geschrieben von Thomas Hettche. Die folgenden Zitate sind alle aus diesem Roman, mit dem es dem Essayisten gelungen ist, historische Persönlichkeiten, die mit der Pfaueninsel verbunden waren, mit viel Fantasie zu einem märchenhaften und zugleich philosophischen Roman zu verweben, der zeitgeschichtlich fast ein ganzes Jahrhundert umspannt.

Im Mittelpunkt steht eine Frau, von der nur noch eine Grabplatte existiert, welche die Aufschrift trägt: »Hier ruhet in Gott die Schloßjungfer Fräulein Maria Dorothea Strakon«. Ansonsten existieren keine historischen Aufzeichnungen mehr. »Die Akten der Gartenintendantur der Preußisch-Königlichen Gärten, in denen sich Belege ihrer Existenz gefunden haben müssen, sind im Krieg verbrannt.« Ihre Lebens- und Liebesgeschichte ist reine Fiktion. Dennoch wandeln heutzutage viele Menschen auf den Spuren des literarischen Romans über die Pfaueninsel, um mit eigenen Augen zu sehen, was von den einstigen Schauplätzen noch übrig ist.

Die kleinwüchsige Marie ist sechs Jahre alt, als sie und ihr älteren Bruder Christian als königliche Pfleglinge auf die Pfaueninsel gelangen:

»Und dann hatte sie die Insel gesehen, zum allerersten Mal. Hochgeschmückt mit ihren Bäumen kam sie selbst wie ein masthohes Schiff heran, weiß der Ausguck der beiden Türme des Schlosses. Ihr Herz schlug wie wild, so glücklich war sie in jenem Moment, denn sie war sich sofort völlig sicher, dass sie so, wie sie war, nur hierher gehören konnte. Und hatte im selben Moment, zum ersten Mal in ihrem Leben, den Schrei eines Pfaus gehört.«

Die freilaufenden Pfauen sind auch heutzutage eine Besonderheit auf der Pfaueninsel. Ursprünglich hieß die 67 Hektar große Insel Kaninchenwerder, da Friedrich Wilhelm I. dort eine Kaninchenzucht betrieb.

Erst unter Friedrich Wilhelm II. wurden dort Pfauen angesiedelt. 1794 bis 1797 wurde ein kleines weißes Schloss durch den Zimmermeister Johann Gottlieb Brendel im romantischen Ruinenstil errichtet. Seine Geliebte, Wilhelmine Enke, die er zur Gräfin Lichtenau adelte und die gelegentlich als »preußische Pompadour« bezeichnet wurde, war an der Planung des Lustschlosses beteiligt.

Friedrich Wilhelm III. nutzte das Schloss als Sommerresidenz und ließ die Pfaueninsel durch den preußischen Gartenkünstler Peter Joseph Lenné in einen großen Landschaftspark verwandeln. Mit einer fiktiven Begebenheit seiner schönen Gemahlin, Königin Luise von Preußen, die acht Wochen später, am 18. Juli 1810 starb, beginnt das Wort der Königin über ihren Tod hinaus wie ein fernwirkender Pfeil das ganze Leben der kleinwüchsigen Marie zu beeinflussen:

»›Und? Ist sie so schön, wie alle sagen? Und der König? Christian, erzähl‘ schon!‹ […] Monster. Mit einem jämmerlichen Wimmern wie ein geschlagenes Tier befreite Marie sich aus der Umarmung des Bruders. Das Wort tat ihr weh wie nichts, was jemals jemand zu ihr gesagt hatte. […] Ein Monster. Sie versuchte das Wort abzuschütteln, wie man ein Insekt abschüttelt, aber es wollte ihr nicht gelingen. Monster. Monster. Monster. Deshalb also hatte man sie nicht rufen lassen.

Dass man sie Schloßfräulein nannte, war nichts als ein Maskenspiel in der Spielzeugwelt der Pfaueninsel, wie alles andere hier auch, wie der Gutshof, bei dem es ganz gleichgültig war, wieviel Milch die Kühe gaben, wieviel Wolle die Schafe, alles nur Maskerade, Kulisse wie die Mauern des Schlosses, die nicht aus Steinen, sondern aus bemalten Brettern bestanden. Schloßfräulein, dachte Marie, und begann zu weinen, war sie nur in dieser Welt der Lüge, in der wirklichen aber ein Monster.«

»Alle Bewohner des Kastellanshauses hatten sich um den großen Tisch im Esszimmer versammelt, der Hofgärtner Ferdinand Fintelmann und seine Schwägerin Luise Philippine, geborene Rabe, die mit ihren drei Söhnen seit ihrer Scheidung hier lebte, der Gartengehülfe Albert Niedler, der bei Fintelmann in die Lehre ging, und Mahlke, der Hauslehrer, den Fintelmann für die Kinder engagiert hatte. […]

›Kannst du schon lesen?‹, fragte er [Gustav, einer der Fintelmann-Söhne] neugierig. Überrascht von dieser Frage, ja entsetzt, dass sie nicht genüge, schüttelte sie heftig den Kopf. Alles war verloren. Trotz der Freundlichkeit des Jungen. Sie konnte noch nicht lesen. Und das erfüllte sie im selben Moment mit panischer Angst, denn sie spürte, wie dankbar sie ihm war. So, als hätte er sie an einer Stelle berührt, die berührt werden wollte. Und er hatte es sanft getan. Nie mehr, dachte sie, wird er mit mir sprechen, weil ich nicht lesen kann. Sie wartete, ob er vielleicht noch etwas sage, aber es blieb still, und ihre Angst wurde immer größer. Doch dann, plötzlich, breitete sich wie ein warmer Tropfen, den man, woher auch immer in sie hineinpipettierte, die sanfte Gewissheit in ihr aus, dass das nichts mache.«

Zwischen Kastellanhaus und Schloss legte der Gartenkünstler Peter Joseph Lenné 1821 einen Rosengarten an, der erste seiner Art in Preußen. Die mit labyrinthartig verschlungenen Wegen gestaltete Anlage galt im 19. Jahrhundert als eine der eindrucksvollsten in Europa. Gegenwärtig (2023) blühen auf der Pfaueninsel mehr als 200 verschiedene historische Rosensorten.

»Der pudrige Geruch der Rosen schwebte in der Hitze. Sie schloß die Augen. ›Ah, mein Fräulein! Welche Freude, Sie endlich kennenzulernen.‹ Als habe man sie bei etwas Verbotenem ertappt, schreckte Marie auf. Lenné stand dicht vor ihr, und er war tatsächlich ein sehr kleiner Mann, nicht zwergenhaft, aber doch so klein, dass sie einander fast schon ins Gesicht sehen konnten. Mit einem maskenhaften Lächeln musterte er sie wie ein fremdartiges Gewächs. […] ›Euer Hochwohlgeboren.‹ Marie deutete einen Knicks an […]

›Sie ist schön, nicht?‹ Lenné nickte zu der Rose hin, die Marie noch immer in ihren Händen drehte. Wie schön es doch sei, dass auf der Pfaueninsel nun vom Mai an und bis zum ersten Schnee die Rosen blühten. ›Gewiss, man muss wässern. Sehr viel wässern sogar! Den ganzen Tag muss man wässern, um diese Pracht zu erhalten. Aber was wollen Sie? Die Natur ist nicht perfekt. Es ist Arbeit, ihr das Schönste zu entlocken!« Er beugte sich vertraulich nah zu ihr und setzte mit maliziösem Lächeln hinzu: ›Denn nur die Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast.‹ Marie spürte wohl die Beleidigung in seinen Worten, ohne jedoch wirklich zu verstehen, was in ihm vorging. […] Lenné hasste die Zwergin dafür, weil sie so die Schönheit seines Gartens zerstörte.«

Lenné schuf zwischen 1829 und 1831 nach Plänen von Friedrich Schinkel auf der rund 1,5 Kilometer langen und 0,5 Kilometer breiten Pfaueninsel auch ein riesiges gläsernes Palmenhaus, das eine exquisite Palmensammlung beherbergte. Im Inneren des Palmenpalastes befand sich eine aus Bengalen stammende kleine Pagode aus Marmor, ein Springbrunnen und ein Goldfischbecken. Neben den verschiedenen Palmenarten wuchsen hier auch Litschi- und Drachenblutbäume, Kaffee, Gewürzpflanzen, Lianen sowie Ananas- und Bananenstauden. Gemeinsam mit indischen Architekturformen und Ornamenten verbreiteten sie ein fremdländisches Flair. Im Roman wird Maries Bruder Christian im Palmenhaus von Gustav Fintelmann ermordet, ein Schicksalsschlag, den sie nie überwindet. Am Schluss des Romans nimmt sie sich dort das Leben. Historisch belegt ist einzig, dass das Gebäude in der Nacht vom 18. zum 19. Mai 1880 aus ungeklärten Gründen bis auf die Grundmauern niederbrannte:

»Als die riesigen Fenster mit einem fürchterlichen Geräusch zersprangen und Tausende und Abertausende Splitter herabprasselten auf die wie Fackeln brennenden Palmen, sah Marie noch einmal den schwarzen Nachthimmel durch den Rauch, der ihn fetzenweise freigab, dann fing auch ihr Kleid Feuer. Und noch einmal und als letztes war Christian wieder bei ihr. Nicht an die Liebe ihre Lebens [Gustav] dachte sie, und nicht an ihr Kind, verloren, und wiederbekommen und für immer verloren, sondern sie spürte den wunderbar warmen, vertrauten, kleinen Kinderleib ihres Bruders wieder neben sich in dem Kahn auf der Havel und empfand das Glück jenes hellen sonnigen Morgens noch einmal, und noch einmal sah sie ihre Insel zum ersten Mal.«

Zur Exotik der Pfaueninsel gehörten nicht nur wertvolle botanische Gewächse, sondern auch eine Menagerie. Wie ich in meinem Roman Der Elefant des Sonnenkönigs schreibe, hatte sich 1815 Friedrich Wilhelm III. bei einem Besuch der Ménagerie du Jardin des Plantes inspirieren lassen und Lenné, der beim dortigen Gartenarchitekten, Gabriel Thouin, in Paris gelernt hatte, damit beauftragt, versteckte Gehege anzulegen. Gehege für Lamas, Affen, Löwen und Kängurus entstanden, ebenso Volieren für viele verschiedene Vogelarten, eine Büffel- und eine Biberbucht, ein Hirschgehege und eine Bärengrube.Gestalterisches Ideal für die Menagerie auf der Pfaueninsel war, wie dies auch der Ménagerie du Jardin des Plantes zugrunde lag, das Konzept »freier Tiere«, die sich in die malerische Parklandschaft integrieren sollten. 1832 zählte man auf der Pfaueninsel 847 Tiere.

»Und dann machte die Nachricht die Runde, der Löwe liege im Sterben. Gut fünf Jahre war es her, dass man ihn auf die Insel brachte. Im letzten Winter hatte er bereits eine Lungenentzündung überstanden, sich jedoch nie mehr ganz erholt. Marie machte sich gleich auf, ihn noch einmal zu sehen, und wie immer war es, als hätten die Tiere in ihren Käfigen auf sie gewartet. Auch der Löwe schleppte sich gleich aus der hintersten Ecke, in die er sich verkrochen hatte, zu ihr hin und ließ sich so an den Stäben nieder, dass sie seinen Bauch streicheln konnte, der sich schwer hob und senkte. Sie erinnerte sich, wie seine Augen damals aus dem Dunkel der Kiste aufgetaucht waren, und wurde furchtbar traurig dabei. […]

Doch sein Blick, in den die alte Kraft noch einmal zurückgekehrt zu sein schien, bannte sie. Sie meinte zu sehen, wie er ihren Bauch betrachtete, und da sie eine Expertin für Blicke war, fühlte sie sich lebendig unter ihm und schön. Am nächsten Tag war der Löwe tot, und zwei Tage später bekam Marie ihr Kind.«

Friedrich Wilhelm IV. hatte kein Interesse an dieser Menagerie und übereignete 1842 die Tiere der neu gegründeten Zoologischen Gesellschaft Berlin. Sie bildeten den Grundstock des Zoologischen Gartens in Berlin, der 1844 als erster deutscher Zoo eröffnet wurde. Von der ehemaligen Menagerie auf der Pfaueninsel sieht man heute im Zentrum der Insel nur noch eine Voliere, einen Wasservogelteich und freilaufende Pfauen.

»›Wie lange leben Sie schon hier, Fräulein Strakon?‹, fragte die junge Frau. ›Mein ganzes Leben.‹ ›Das war sicher oft sehr einsam.‹ Marie schüttelte den Kopf. ›Nein, gar nicht‹, sagte sie, ›Wir waren ja viele!‹ […]

Nicht einmal mehr zu ahnen war, wo Lenné die Käfige zwischen den Eichen am Rand der großen Schlosswiese gruppiert hatte, die nun beinahe wieder so aussah, wie Marie sie aus ihrer Kindheit kannte. Verschwunden all die hochfahrenden Bilder, stumm wieder die Insel, wie sie es einst gewesen war. […]

Wie seltsam, dass all der Prunk Lennés, den der König befohlen hatte in seinem unbedingten Willen, die Zeit seines Vaters vergessen zu machen, wieder getilgt worden war von der Insel, tot und verdorrt, und nichts geblieben war als der Glanz der Pfauen. […]

›Wir sagen, die Zeit vergeht, dabei sind wir es.‹ […]

›Und in Wirklichkeit ist alles noch da, und auch wir sind alle noch da, nur nicht im Jetzt.‹«

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