Buchvorstellung – »Warte nicht auf schlanke Zeiten«

Cover fürs Buch »Warte nicht auf schlanke Zeiten«

Schon im Vorwort ihres 208-seitigen Sachbuches Warte nicht auf schlanke Zeiten: Ein Buch für starke Frauen, Kreuz Verlag, Freiburg im Breisgau 2013, kommt die Psychologin und Verhaltenstherapeutin Renate Göckel, die seit vielen Jahren in ihrer eigenen Fachpraxis essgestörte Frauen betreut, zum psychologischen Kern des Problems, zu den Aufgaben, die das Übergewicht (noch) zu erfüllen hat: Vergessen im Essen, Schutzmantel, Abstandshalter, … Es kann gute Gründe geben, wenn Frauen ihr Übergewicht (noch) behalten. Oft handelt es sich bei den Frauen mit Essproblemen um Hochsensible, für die Renate Göckel das Buch Was Hochsensible glücklich macht: Leben mit einer seelischen Begabung geschrieben hat.

Renate Göckel möchte erreichen, dass Betroffene die Frage »Wie nehme ich am schnellsten ab?« ersetzen durch »Für welche Bedürfnisse und Empfindlichkeiten schäme ich mich? Wobei hilft mir das Fett im Alltag? Wovor soll es mich schützen?«

Teufelskreis
Die Psychologin beschreibt den Teufelskreis derer, die ihr Übergewicht trotz aller Problemlösungsversuche (noch) behalten wie folgt: »Der perfektionistische und kontrollierende Teil [unseres Bewusstseins] lässt unserem bedürftigen und verletzlichen Teil [des Unterbewusstseins] keinen Platz. […] Dieser verletzliche und bedürftige Teil ist in der Kindheit entstanden durch Verletzungen und Entbehrungen, gegen die wir uns damals nicht wehren konnten. Nun fordert dieser Teil aber »Nahrung« von uns.
Wenn er nicht gewürdigt und nicht mit Selbstfürsorge zufriedengestellt wird, kommt es zu einer »heimlichen Fütterung« durch Heißhungeranfälle. Dieses »Füttern« ist immer mit Scham (›Du bist minderwertig‹) und mit Schuldgefühlen (›Jetzt hast du wieder versagt‹) verbunden und endet oft in Verzweiflung (›Du wirst es nie schaffen‹).
Nur die Hoffnung auf eine erneute Diät oder gar eine Operation bringen uns aus der Verzweiflung – bis zum nächsten Rückfall. Und so geht es immer weiter. Wir können diesem Teufelskreis nur entrinnen, wenn wir uns unserem verletzlichen, bedürftigen Teil stellen und ihn ›legal‹ füttern.
Dazu müssen wir hinuntersteigen in Tiefen unserer Seele, in die wir nicht steigen wollten.«

Ausgleichsarbeiten
Petra (Sekretärin, 97 kg)
»Das Fett behindert mich im Beruf, denn ich lasse mir vieles gefallen, weil ich mir sage: Petra, wenn du schon so fett bist, dann musst du durch andere Qualitäten glänzen. Dies sind zum Beispiel Zuverlässigkeit, Einsatzbereitschaft und Nettigkeit.«

Renate Göckel bezeichnet solche Ausgleichsarbeiten als Zugaben, die sich aus Beschwichtigungsverhalten, vorauseilendem Gehorsam und kostenlosem Service zusammensetzen, und – die Betroffenen am Glücklichsein hindern, weil sie ihr Leben auf später verschieben, auf die »schlanken Zeiten«.

Mit einem Selbsttest und mehreren Imaginationsübungen zum dicken Selbstbild möchte die Psychologin wirksame Selbsterkenntnisse hervorrufen. Die Autorin räumt auch mit verschiedenen Irrtümern auf, vor allem dem Irrtum, sobald man schlank sei, sei man automatisch ein anderer Mensch. Es sei zudem hilfreich, Zusammenhänge wie diesen zu erkennen: Je dicker und damit schuldbewusster man ist, desto besser funktioniert man für andere, desto mehr muss man essen, desto mehr fühlt man sich schuldig, desto mehr funktioniert man wieder von Neuem. Sehr nützlich für andere!

Die Psychologin meint dazu: »Je gewissenhafter wir sind, desto mehr Hamsterräder bedienen wir täglich. Und es reicht dann auch nicht, dass alle nur in Schwung sind, nein, sie müssen sich immer schneller drehen. Das ist so anstrengend. Das ist nicht zu schaffen. Wir können nie unbeschwert sein und uns ›gehenlassen‹.« Außer beim Essen, und es sind so oft die nachfolgenden Schuldgefühle, welche die Menschen am Funktionieren halten.

Lösungsversuche
Petra
»Jetzt hast du Feierabend. Keiner will mehr was von dir. Du kannst dich entspannen und gehenlassen. Und das Essen ist immer für dich da. Es enttäuscht dich höchst selten, im Gegensatz zu launischen Menschen. Meine Schokolade, meine Lieblingsserie und im Internet nach schönen Klamotten für Schlanke gucken – da bin ich glücklich. Da brauche ich sonst nichts mehr.«

Häufig, so die Psychologin, setze man sich vor den Fernseher, surfe im Internet oder poste bei Facebook, damit man länger ungestört essen könne und Selbstvorwürfe wegen des Überessens nicht so schnell ins Bewusstsein kämen – ein äußerst kurzsichtiger Lösungsversuch. Manchmal, so die Psychologin weiter, stelle der Schutzpanzer aus Fett an sich einen Lösungsversuch dar. Ursprünglich empfanden Betroffene Scham, als sie durch eine wichtige Bezugsperson ständig entwertet wurden. Der wachsende Schutzmantel zog dann weitere Entwertungen nach sich. Nun allerdings bezogen sich die Entwertungen auf das Fett und galten nicht mehr der ganzen Person.

Manchen Frauen gelingt es, sich von diesem Schutzpanzer »freizusprengen«, nicht nur einmal, sondern mehrmals (wegen des Jo-Jo-Effekts), denn »freisprengen« suggeriert eine blitzartige Lösung, die es beim Schlankwerden jedoch nicht gibt, insbesondere deshalb nicht, weil dicke Frauen einen gestörten Insulinstoffwechsel haben. Die tieferliegende Ursache des Gewichtsproblems liegt jedoch im Lebensmotto »Weil ich es mir nicht wert bin«, verleugne ich meine inneren Bedürfnisse und habe deswegen immer wieder Essanfälle.

Petra
»Also, der Küchendienst war wichtig, der Mutter helfen, den Bruder hüten, Hausarbeit erledigen. Eigene Bedürfnisse sollte ich nicht haben, möglichst auch keine Freunde. Ich sollte fleißig sein, gut in der Schule und später mal einen Mann heiraten, mit dem meine Eltern angeben konnten. Ach ja, und einen Beruf sollte ich ja auch erlernen.«

Petra sollte also Serviceleistungen erbringen, Selbstlosigkeit demonstrieren und den Eltern etwas bieten, worauf sie stolz sein konnten. Null im Verbrauch, hoch in der Leistung. Das kann auf lange Zeit nicht gutgehen, so Renate Göckel, denn jedes System benötigt irgendwann Wartung oder ein Auftanken/Befüllen. Da bleibt dem Körper als Lösungsstrategie nur das emotionale Essen, um die »Batterien« wieder aufzufüllen. Doch hätte Petra als Kind das Essen nicht als Trost gehabt, wären gemäß der Psychologin »möglicherweise noch schlimmere Schäden entstanden. Das Essen gab ihr Geborgenheit, Trost, Wärme und eine kleine Auszeit. Das Essen und später das In-sich-Hineinstopfen halfen Petras Seele zu überleben und sich zu verstecken in einer Zeit, als sie abhängig und schwach war. Und als sie niemanden hatte, der sie getröstet und verstanden hätte. Petra hat ein klares Bemutterungsdefizit.«

Petra
»Ich bekomme eine heillose Wut, wenn ich bedenke, das eigentlich keiner für mich da war. […] Diese Gefühl hat sich bei mir tief eingegraben: erst benutzt und dann abserviert zu werden.« Doch Petra erlaubt es sich nicht, ihre Wut und Ohnmacht auszudrücken, nur beim Essen haut sie rein und schlägt sie zu.

Das sind gemäß Renate Göckel alte Wunden, die immer noch bluten. Die schlimmsten Kränkungen der Kindheit fasst die Psychologin so zusammen: verlassen werden, verraten werden, ausgeschlossen werden, zurückgewiesen werden. Der wachsende Schutzmantel Fett, der ursprünglich eine Notlösung darstellte, wird irgendwann selbst zum Problem, denn das Fett täuscht Gewicht im Sinne von »Gewichtigkeit« oder »Bedeutung« nur vor – in Wirklichkeit gibt sich eine dicke Frau in ihrem Leben zu wenig Raum, zu wenig Gewicht und zu wenig Selbstwert.

Petra
»Durch das Fett gebe ich Gewicht und Stärke vor, die ich in Wirklichkeit nicht habe.« Was versteckt Petra? »Mein wahres Ich.« Auf die Frage der Psychologin, was denn ihr »wahres Ich« sei, weiß Petra keine Antwort.

Tatsächlich kennen viele dicke Frauen ihr »wahres Ich« nicht, weil sie ganz früh einen Teil von sich wegpacken, verstecken mussten. »Jede dicke Frau musste einen Schatz vergraben. Diese Schatz ist der ausgestoßene Teil ihres Wesens. Der Teil, den in ihrer Kindheit niemand sehen und niemand haben wollte, weil sie für andere funktionieren musste. Ihr Schatz liegt nicht nur unter ihrem Fett begraben, sondern auch unter den Eigenschaften, die sie nach außen hin zeigt. Unter ihrem Image. Es ist das Image der servicebereiten Partnerin und Mutter, der freundlichen Kundin, der hilfsbereiten Nachbarin, der verständnisvollen Kollegin.«

Narzisstisch besetzt
Zwei Männer treffen sich nach langer Zeit:
Hans: »Ja, und vor zehn Monaten habe ich geheiratet, aber leider starb meine Frau vor vier Wochen.«
Franz: »Wie schlimm! Was hat sie denn gehabt?«
Hans: »Ein kleines Einzelhandelsgeschäft und ein paar tausend Mark Festgeldanlagen.«
Franz: »Nein, das meine ich nicht. Was hat ihr denn gefehlt?«
Hans: »Na gut, ein Bauplatz und Geld, um das Geschäft vernünftig auszubauen.«
Franz: »Das meine ich doch nicht! An was ist sie denn gestorben?«
Hans: »Ach so. Sie wollte in den Keller, um fürs Mittagessen Kartoffeln und Sauerkraut hochzuholen. Dabei ist sie die Treppe heruntergefallen und hat sich das Genick gebrochen.«
Franz: »Um Himmels willen! Und was habt ihr denn dann gemacht?«
Hans: »Nudeln.«

Mit diesem Macho-Witz erklärt die Psychologin den Kern einer Kränkung. Hans sieht nur seinen eigenen Vorteil. Seine Frau ist ihm egal. Sie ist für ihn kein Mensch mit eigenen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen, sondern sie ist dazu da, ihm etwas zu bieten. Ihr Wert bemisst sich ausschließlich nach den Vorteilen, die er durch sie hat. Hans hat seine Frau narzisstisch besetzt.

Für mich ist das kein Witz, denn ich war zwanzig Jahre lang mit so einem Mann verheiratet. Kein Wunder, dass meine Seele krank wurde! Kein Wunder, dass ich damals massiv zugenommen habe! Ein gesundes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl hätte verhindern können, dass ich mich von meinem ersten Mann und beruflich von einigen Chefs dermaßen narzisstisch habe besetzen lassen! Heute habe ich mich weitgehend unabhängig gemacht von Lob und Anerkennung Außenstehender. Äußerlichkeiten wie beispielsweise Schlanksein sind NICHT die Voraussetzung dafür, ein wertvoller Mensch zu sein!

Bietet die psychologische Verhaltenstherapie eine Lösung für Essprobleme?
So weit, so gut. Ich habe verstanden, dass jemand, dessen Unterbewusstsein das Essen sehr lange zur psychischen Stabilisierung gebraucht hat, nicht ganz so einfach weniger oder anders essen kann. Renate Göckel rät, dem Teil in uns, der viel essen muss, Verständnis entgegenzubringen. Denn unter der Fett-Scham und den Schuldgefühlen wegen des Zu-viel-Essens liegt eine viel tiefere und ältere Scham, die viel schmerzhafter ist, der wir uns ungern stellen wollen: die Scham, nicht liebenswert zu sein.

»Wie zu einer Leiche im Keller – oder im Sterbezimmer – müssen wir die Tür zu den alten Gefühlen aufmachen, den Gestank und Anblick ertragen, den alten Schmerz nochmals spüren und das Gefühl aushalten. Wir können Scham und Schuldgefühle und den damit verbundenen Schmerz nur annehmen und abwarten, was passiert.«

Das fällt schwer und ist oftmals nur mit psychotherapeutischer Hilfe zu schaffen, doch Renate Göckel ermutigt:

»Wenn Sie über längere Zeit den Mut haben, Ihren Gefühlen mehr Raum zu geben, und sie etwas länger aushalten, bevor Sie sie mit Essen wegstopfen, dann verändert sich langsam etwas bei Ihnen. Sie werden wütender, selbstbewusster und eigenmächtiger und damit echter, authentischer, konfliktfähiger und lebendiger.«

Vom Schlankwerden ist hier nicht die Rede, das wäre denn auch zu viel versprochen. Doch am Schluss kommt die Autorin noch einmal auf den Titel zurück, wenn sie rät: »Warte nicht auf schlanke Zeiten, sondern fange an zu leben! Jetzt gleich!«

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