Buchvorstellung – »Zu viel um die Ohren«

Cover fürs Buch »Zu viel um die Ohren«

Tinnitus – woher kommen die lästigen Ohrgeräusche?
Martin Luther machte bei einer Tischrede am 13. März 1533 für seinen quälenden Tinnitus den »zottig‘ Gesell« (Teufel) verantwortlich. Er verwendete bereits das lateinische Wort »Tinnitus«, das so viel wie Klingeln bedeutet: »Niemand glaubt mir, wie viel Qualen der Schwindel, das Klingeln und Sausen der Ohren verursachen.«

Der Wissensstand zu verschiedenen – unter dem Begriff Tinnitus zusammengefassten – nervigen Ohrgeräuschen, die nur im Kopf existieren, ist heutzutage um ein Vielfaches größer. Trotzdem hat es mich überrascht zu erfahren, dass ausnahmslos alle Menschen Ohrgeräusche haben – gemäß dem leicht verständlichen Sachbuch Zu viel um die Ohren: Wie Stress das Hören verändert, Ecowin Verlag, Salzburg 2021, von Dr. med. Uso Walter und Dr. med. Lucia Schmidt. Grund dafür sind altersbedingte Veränderungen, vor allem das Absterben der etwa 15 000 Sinneszellen der Ohren – erstaunlich wenig im Vergleich zu den ca. 20 bis 30 Millionen Sinneszellen der Nase oder den ca. 120 Millionen Sinneszellen der Augen.

Das Absterben der empfindlichen Ohrsinneszellen – neben dem Alterungsprozess ist hierfür vor allem der schädigende Einfluss von Lärm verantwortlich – führt zu einer veränderten Nervenaktivität im Bereich der Hörbahn. Es entsteht eine Art Störstrom, der als Geräusch wahrgenommen werden kann. Die meisten hören ihren Tinnitus jedoch nicht, weil der Thalamus (Kerngebiet des Zwischenhirns) in der Regel diese Störstromgeräusche unterdrückt – ebenso wie viele andere Körpergeräusche (beispielsweise den Herzschlag oder das eigene Schnarchen) sowie unwichtige Umgebungsgeräusche. Erst im Laufe des Lebens lernt der Thalamus, den Klang des eigenen Namens aus den Umgebungsgeräuschen herauszufiltern. Bevorzugt lässt er wichtige Geräusche durch, die eine Gefahr darstellen könnten und uns alarmieren sollen. Beispielsweise haben Mütter ein feines Gehör für das Weinen ihres Babys, selbst nachts.

Wichtige Geräusche werden also verstärkt. Wer mit seinem Tinnitus im inneren Widerstand bleibt und ihn permanent mit negativen Gefühlen auflädt, sorgt dafür, dass das Ohrgeräusch vom Gehirn den Status »außerordentlich wichtig« erhält und der Tinnitus deswegen immer öfter und stärker in den Vordergrund tritt. Möchte man das Gehirn wieder umlernen, hilft es kurzfristig, die Ohrgeräusche bewusst durch eine angenehme äußere Klangkulisse zu »neutralisieren«. Gut geeignet sind beruhigende Naturgeräusche wie Meeresrauschen oder wohlklingende, sanfte Musik, die entspannt.

Langfristig – das halten die beiden ärztlichen Autoren für die wichtigste Maßnahme – hilft nur konsequenter Stressabbau, denn wer entspannt, geht die Ursache an und entzieht dem Tinnitus den Nährboden. Grundsätzlich gilt nämlich, dass ein Tinnitus lauter wird, wenn vermehrt Stresshormone ausgeschüttet werden, umgekehrt wird er leiser. Durch Bewegung und Entspannung bauen wir Stresshormone wieder ab. Stressabbau heißt also, öfter mal eine Pause einzulegen – Chillaui genießen. Wie wäre es mit einem erholsamen Waldspaziergang, einem warmen Bad, einem entspannenden Powernap oder wohltuendem Autogenen Training?

Dauerstress – Anspannung – schlechtere Hörverarbeitung
Gezielte Muskelentspannung hilft nachweislich bei Tinnitus, denn Dauerstress führt oft zu Verspannungen der Nackenmuskulatur oder des Kiefergelenks, sodass der Thalamus mehr des geräuschvollen Störstroms durchlässt. Dauerstress kann auch zu einem plötzlichen Hörsturz mit akutem Hörverlust führen, wodurch die Hörverarbeitung sofort bemerkt, dass etwas nicht stimmt. Auf einmal lässt der Thalamus die sonst unterdrückten Störstromgeräusche passieren bzw. verstärkt sie sogar, damit das Großhirn der Gefahr etwas entgegensetzen kann. Nun wird der Tinnitus leider bewusst wahrgenommen und kann chronisch werden, wenn ihm zu viel Beachtung geschenkt wird.

Gerade 60 Jahre alt geworden, zudem im Laufe meines Leben leidvolle Erfahrungen mit Zähneknirschen, Tinnitus und Hörsturz gemacht, hat mir das 288-seitige Sachbuch rund um den komplexen Hörvorgang mehr Verständnis darüber vermittelt, warum das passiert ist – ich war in allen (!) meinen Lebensbereichen im Dauerstress, hatte zu viel um die Ohren!

Neuere Forschungen zeigen, dass Nervenbahnen, die für die Anspannung der Muskelgruppen rund um den Kopf verantwortlich sind, auch Verbindungen zur Hörverarbeitung haben. Über diese Vernetzung kommt es bei länger andauernden Verspannungen zu einer verminderten Unterdrückung akustischer Störreize. Zudem werden die sensiblen Ohrsinneszellen durch Mikrodurchblutungsstörungen und Störungen des Zellstoffwechsels, wie sie bei Stress häufig auftreten, zusätzlich geschädigt.

Kontinuierlicher Hörverlust
Ich fand im Buch auch eine Antwort darauf, warum mir das Hören zunehmend schwerer fällt, insbesondere bei gleichzeitigen Störgeräuschen. Es liegt daran, dass vom Tag der Geburt an zunächst die äußeren und später dann auch die inneren Haarzellen (die feinen Flimmerhärchen der Ohren) nach und nach verlorengehen und leider auch nicht mehr nachwachsen. Das Hörvermögen nimmt deswegen zeitlebens ab. Zum Alter hin beschleunigt sich der Hörverlust:

»Da die Haarzellen in den unteren Windungen der Hörschnecke empfindlicher sind als in der Schneckenspitze, sind von dem Verschleiß zunächst vor allem die hohen Frequenzen betroffen. Der Hauptsprachbereich zwischen 500 Hz und 4 000 Hz bleibt daher lange Zeit unberührt, sodass das Hören im Alltag vermeintlich kaum beeinträchtigt ist. Da der Prozess insgesamt über viele Jahrzehnte abläuft, spürt man den allmählichen Hörverlust in der Regel nicht.

Erst wenn in höherem Alter die mittleren Frequenzen nachlassen, wird das Sprachverstehen bei Störgeräuschen oder wenn viele Personen gleichzeitig sprechen, schlechter. Denn dann fehlen die Obertöne, die den besonderen Klang einer Stimme ausmachen und sie von der Umgebung noch einmal abheben. Die hochfrequenten Zugaben zur Grundfrequenz sind nämlich wichtig zur Differenzierung unterschiedlicher Geräuschquellen. Man hört zwar noch alles, versteht aber immer weniger.«

Alter und maximal wahrnehmbare Frequenz (Tonhöhe)
bei der Geburt: max. 20 000 Hz
30 Jahre: max. 16 000 Hz
50 Jahre: max. 12 000 Hz
60 Jahre: max. 8 000Hz
70 Jahre: max. 6 000 Hz
80 Jahre: max. 4 000 Hz

Kontinuierlichen Hörverlust bremsen
Natürlich hat mich interessiert, ob ich etwas tun kann, um den kontinuierlichen Hörverlust zu bremsen, denn ein schlecht funktionierendes Hörvermögen fördert kognitive Defizite und kann sogar zu Demenz führen. Die Fähigkeit des Gehirns, Sprache zu verstehen, beruht nämlich nicht nur auf der passiven Aufnahme und Weiterleitung von akustischen Informationen, sondern vor allem darauf, dass unser Gehirn das, was bei ihm ankommt, aktiv verarbeitet und interpretiert.

Bei einem Normalhörenden läuft dieser Prozess unbewusst ab und bedarf keinerlei Anstrengung. Das Gehirn vergleicht dabei ständig die Informationen, die es von den Ohren bekommt und ergänzt sie aufgrund seiner Erfahrung. Es ist logisch, dass es dem Gehirn immer schwerer fällt, die entstehenden Lücken zu füllen, wenn mit zunehmender Schwerhörigkeit immer weniger akustische Informationen ankommen. Nervenverbindungen bilden sich zurück, sodass sich nicht nur das Hören selbst verschlechtert, sondern vor allem die Hörkompetenz verkümmert. Da jetzt mehr Ressourcen für das Hören aufgewendet werden müssen, fehlen sie an anderer Stelle, beispielsweise beim Merken von neuen Informationen oder beim Verarbeiten von Gelerntem.

Mangelndes Hörvermögen ist tragischerweise für etwa neun Prozent aller Demenzfälle verantwortlich und – ganz bedauerlich – die Betroffenden wären bei einer rechtzeitigen Versorgung mit einem Hörgerät nicht dement geworden! Der individuell richtige Zeitpunkt für ein Hörgerät darf auf keinen Fall verpasst werden!

An dieser Stelle im Buch habe ich mich gefragt: Brauche ich denn schon ein Hörgerät?
»In dieser Grauzone [wenn man selbst merkt, dass das Verstehen von Sprache schwieriger wird] zwischen normalem Hörvermögen und echter Schwerhörigkeit ist es aber für eine Versorgung mit meinem Hörgerät noch zu früh. Dafür sind die mittleren Frequenzen im Hauptsprachbereich noch zu gut und die Geräte werden von den Krankenkassen in der Regel noch nicht erstattet.«

Aha, aber was kann ich dann für meine Ohren tun?
Es gibt Möglichkeiten, den kontinuierlichen Hörverlust zu bremsen, und zwar durch ein Training der Hörverarbeitung. Denn die entsprechenden neuronalen Netzwerke, welche die Differenzierung verschiedener Stimmen und die Trennung von akustischer Information und Störgeräuschen bewerkstelligen, bleiben bis ins hohe Alter lern- und anpassungsfähig.

Mir gefiel der praktische Tipp, beim Hören eines Hörbuchs oder Podcasts die Lautstärke so leise wie möglich einzustellen. Wenn das in ruhiger Umgebung gut gelingt, kann man es mit Hintergrundgeräuschen üben – beispielsweise bei offenem Fenster oder neben einem laufenden Geschirrspüler. Eine halbe Stunde tägliches Training würde nach sechs bis acht Wochen zu einem subjektiv besseren und entspannteren Hören führen. Diesen Tipp werde ich auf jeden Fall umsetzen.

Lärm kommt übrigens gleich nach der Luftverschmutzung auf Platz 2 der krankmachenden Umweltfaktoren. Jegliche längeren Lärmeinwirkungen oberhalb von 85 dB(A) – Industrielärm, Verkehrslärm, lautes Konzert, Heimwerken mit lauten Werkzeugen, Aufdrehen der Kopfhörer beim Musikhören – führen zu einer direkten Schädigung der Ohrsinneszellen. Bei einem Aufenthalt in der Nähe von Lautsprecherboxen mit einer Lautstärke oberhalb von etwa 115 dB(A) reicht nur eine einzige Minute für einen irreversiblen Hörverlust. Gehörschutz können Gehörschutzkopfhörer bieten, Ohrstöpsel aus der Apotheke oder bei unerwarteten Lärmsituationen ein zusammengerolltes Papiertaschentuch, das locker (!) in den Gehörgang gesteckt wird.

Da wir unsere Ohren nicht wie unsere Augen (oder wie Goldfische) bewusst verschließen können, ist es klug, sich öfter mal Gedanken darüber zu machen, wie wir unser Gehör vor zu großer Lärmbelastung schützen können, denn – vergessen wir nicht – die Sinneszellen unserer Ohren wachsen nicht nach!

Wenn euch der Beitrag gefallen hat, würden wir uns über einen Kommentar von euch sehr freuen. Ihr könnt euch gern zu unserem monatlichen Newsletter anmelden.

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert