Buchvorstellung – »Schmerz loswerden«

Cover fürs Buch »Schmerz loswerden«

»Schmerz ist ein Meister, der uns klein macht,
Ein Feuer, das uns ärmer brennt,
Das uns vom eigenen Leben trennt,
Das uns umlodert und allein macht …«

Hermann Hesse, In Schmerzen (1933)

Mit obigem Zitat beginnt das leicht verständliche 272-seitige Sachbuch von Sven Gottschling und Lars Amend mit dem Titel Schmerz loswerden: Warum so viele Menschen unnötig leiden und was wirklich hilft, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2020. Es klärt über die medikamentösen und nicht-medikamentösen Schmerztherapien der modernen Schulmedizin auf, indem es einen guten Überblick verschafft, was diese leisten können und was nicht. Darauf kann ich in meiner Buchvorstellung nicht im Detail eingehen, sondern beschränke mich auf die Wissenslücken, die dieses Buch dankenswerterweise bei mir gefüllt hat.

Professor Dr. Sven Gottschling (geb. 1971 in Stuttgart) hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, kranken Menschen ihre Schmerzen zu nehmen und ihnen mehr Lebensqualität zu geben. Er ist Chefarzt am Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie des Uniklinikums des Saarlandes. Er geht von einem bio-psycho-sozialen und spirituellen Schmerzmodell aus und setzt sich für eine ganzheitliche Therapie im Sinne eines Total-Pain-Konzept ein, das er im Buch anschaulich erklärt.

Was ist Schmerz? Allodynie? Hyperalgesie?
Professor Gottschling legt dar, dass eine so unglaublich hohe Zahl von Gehirnarealen an der Schmerzwahrnehmung, Schmerzbewertung und Schmerzempfindung beteiligt sind, dass sich der Begriff Schmerzmatrix etabliert hätte:

»So, und jetzt kommt der Hammer: Nicht nur, dass die eigentlichen Vorgänge im Gehirn in Zusammenhang mit Schmerz unglaublich kompliziert sind. Auch auf Rückenmarksebene und im Bereich des verletzten Gewebes können eine Menge Phänomene auftreten, die ihrerseits wiederum allesamt Einfluss auf unseren Schmerz nehmen können.

Wir alle haben in unserem Körper unzählige Rezeptoren sitzen, die zeitweilig außer Funktion sind und in einer Art »Stand-by-Modus« verharren, wie Sie es von Ihrem Fernseher kennen. Wenn es jetzt in einem bestimmten Bereich Ihrer Haut zu Entzündungsvorgängen kommt, werden diese Rezeptoren aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt und scharfgeschaltet. Die Folge ist, dass eigentlich nicht schmerzhafte Reize, wie zum Beispiel Druck und Berührung, plötzlich Schmerzen auslösen und dass leicht schmerzhafte Reize zu völlig übersteigerten Schmerzen führen können. Die Fachbegriffe hinter diesen beiden Phänomenen heißen: Allodynie – hier ist bereits Berührung schmerzhaft, und Hyperalgesie – dies bezeichnet die übersteigerte Schmerzempfindlichkeit auf schmerzhafte Reize. 

Ich möchte Ihnen das an einem Beispiel verdeutlichen: Die meisten Menschen hatten in ihrem Leben schon einmal einen Sonnenbrand, zum Beispiel im Schulter-Nacken-Bereich. Die Haut ist entzündet, gerötet, empfindlich; die Rezeptoren sind hochgeregelt und plötzlich schmerzt schon die leiseste Berührung des Hautareals. Schon das T-Shirt auf der Haut wird als unangenehm und schmerzhaft empfunden. Das ist Allodynie. Mit Hyperalgesie ist gemeint, wenn Ihnen jetzt noch jemand mit der Handfläche zur Begrüßung freundlich und mit vollem Schwung auf ebendiesen Sonnenbrand haut.«

Mit diesem Zitat wird klar, wie gut es Professor Gottschling gelingt, das das höchst komplexe Schmerzgeschehen bzw. Schmerzerleben zu erklären. Eindrucksvoll sind auch die Lebenserfahrungen von Schmerzpatienten, einschließlich seiner eigenen. Man merkt deutlich: Der Autor lebt dafür bzw. setzt sich sehr dafür ein, dass niemand mehr, egal wie jung oder alt und egal wie krank, unnötig leiden muss. Das spürt man vor allem bei den Kapiteln Schmerz bei Kindern und Schmerzen im Alter. Schonungslos legt der Autor offen, wie hier die traurige Wirklichkeit in Deutschland aussieht: Je jünger und behinderter oder je älter und dementer ein Mensch, desto unzureichender ist seine Schmerztherapie.

Professor Gottschling ist sich sicher, dass vielen Menschen sehr leidvolle chronische Schmerzen für die restlichen Lebensjahre erspart werden könnten, wenn vor und nach einer Operation eine wirksame Schmerztherapie durchgeführt würde. Leider sind auch hier unzureichend eingestellte Schmerzen durch Unterdosierung von Schmerzmitteln der Klinikalltag. Auf die Big Five der Schmerzarten geht der Autor näher ein: Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Bauchschmerzen, Gelenkschmerzen und Tumorschmerzen bzw. Schmerzen am Lebensende. Schon rein vorsorglich lohnt es sich, seine Ausführungen einmal selbst zu lesen.

Schmerz ist weiblich
Sind Männer – was Schmerzen angeht – wirklich Weicheier? Interessant war für mich, dass die Schmerzforschung festgestellt hat, dass Frauen eine deutlich höhere Schmerzsensibilität haben. Sowohl die Schmerzschwelle als auch die Schmerztoleranz liegen bei Frauen niedriger als bei Männern.

Frauen verarbeiten Schmerzen wesentlich emotionaler, da ihr limbisches System sehr viel aktiver ist. Bei Männern laufen eher die analytischen Zentren der Hirnrinde auf Hochtouren; zudem gelingt es ihnen wesentlich besser, ihre schmerzhemmende Systeme wie das Endorphin-System zu aktivieren. Das entzündungshemmende männliche Hormon Testosteron tut dann noch ein Übriges, während das weibliche Hormon Östrogen sich eher entzündungsfördernd verhält, was ungünstig ist. Denn Schmerz und die Ausschüttung von Botenstoffen, die wiederum die Schmerzrezeptoren aktivieren, haben ganz viel mit Entzündung zu tun. Entzündetes Gewebe ist äußerst schmerzempfindlich. So kommt es, dass Schmerzen bei Frauen länger anhalten und öfter chronifizieren.

Einen Vorteil haben Frauen jedoch gegenüber Männern. Es wurde bei ihnen ein höheres Bindungspotenzial für Morphin, das zu den schmerzdämpfenden Opiaten zählt, nachgewiesen. Männer benötigen etwa 50 Prozent mehr Morphin, um eine ähnliche Schmerzlinderung zu erreichen. Moment mal …

… machen Opioide wie Morphin nicht abhängig, werden nicht gut vertragen und beschleunigen sogar den Tod?
Professor Gottschling hat sich in diesem Buch alle erdenkliche Mühe gegeben, sämtliche Vorurteile zu entkräften. Wenn sich behandelnde Ärzte mit der Steuerung dieser Medikamente auskennen, gehöre Morphin zu den segenreichsten Medikamenten, welche die Schmerzmedizin habe. Als lebendes Beispiel dient eine seiner Patientinnen, die sich vor Schmerzen kaum noch rühren konnte und der es unter einer niedrig dosierten Opioid-Therapie jetzt prächtig geht.

»Der Schreck war zu Beginn ganz schön groß, als ich ihr mitteilen musste, dass mit ihrem vorgeschädigten Herzen Diclofenac und Ibuprofen die letzten Medikamente wären, die zu verantworten sind und dass ich sie konsequenterweise auch sofort einkassieren müsste. Große ungläubige Augen starrten mich an, als ich eine Opioid-Schmerztherapie empfahl.«

Die von ihr befürchteten Nebenwirkungen, von dem Opiodmedikament abhängig zu werden oder gar nicht mehr zurechnungsfähig zu sein, traten nicht ein. Als es ihr nach vier Wochen so viel besser ging, fragte sie sich, wieso sie sich eigentlich so lange mit starken Schmerzen herumgequält hatte.

Für Professor Gottschling gehört Morphin zu den bestverträglichsten und segenreichsten Medikamenten überhaupt, die für die Versorgung von Menschen mit starken und stärksten Schmerzen – auch in Langzeit-Dauerschmerztherapie – zur Verfügung stehen.

Strategien zur Schmerzbewältigung
Professor Gottschling legt sechs verschiedene Strategien der Schmerzbewältigung dar, die Menschen der unterschiedlichsten Kulturen mit mehr oder weniger guten Ergebnissen verfolgen. Mir hat Gottschlings wichtigster Rat für Schmerzpatienten jedweden Alters – ausdrücklich auch für den älteren und sehr alten Schmerzpatienten – sehr gut gefallen: Tango statt Fango. Bewegen, bewegen, bewegen! Der humorvolle Schreibstil des Autors zeigt sich auch darin, wie er die mit Abstand schlechtesten Sportarten beschreibt: »Extrem-Couching« und »Permanent-Chillen«.

Es hilft. Bewegung hilft selbst bei meiner akuten Plantarfasziitis. Die absolute Schonung über Weihnachten hat meine Schmerzen nicht gemindert. Dass ich jetzt im neuen Jahr 2024 trotz Schmerzen wieder meinen täglichen Walk mache, scheint jedoch die Durchblutung zu fördern und die entzündungsstillenden Stoffe, die ich innerlich und äußerlich verwende erst an die richtige Stelle zu bringen. Zusätzlich noch tägliche Fußmassage mit einer Faszienrolle und Einnahme von Weidenrindenextrakt als stärkstes natürliches Schmerzmittel – das alles hat meine Schmerzen erträglich gemacht. Ich hoffe nun auf baldige Ausheilung. Jetzt zur größten Wissenslücke, die ich geschlossen habe:

NSAR-Substanzen wie Aspirin, Ibuprofen, Diclofenac
Neben anderen Nebenwirkungen auf die inneren Organe, die meist nicht spürbar sind, und der Tatsache, dass sie einen medikamentenbedingten Kopfschmerz auslösen können, stören diese Schmerzmittel nachhaltig die Schutzbarrieren im Verdauungstrakt, die eigentlich dafür sorgen sollen, dass wir keine Löcher in Magen oder Darm bekommen bzw. in Blutgefäßen, die sich in dem Schlauchsystem des Magen-Darm-Traktes befinden. Typische Nebenwirkungen sind daher Geschwüre bis hin zu vollständigen Wanddurchbrüchen, bei denen Magen‐ oder Darminhalt in die Bauchhöhle gelangen kann, oder hoch dramatische Blutungssituationen.

»Bereits nach wenigen Tagen steigt das Risiko für eine Magen-Darm-Blutung an, so dass man eine längere Einnahmedauer als drei bis sieben Tage (in Ausnahmefällen zehn bis vierzehn Tage) guten Gewissens nicht wirklich verantworten kann.«

Wegen des hohen Risikos der Organschädigungen begrenzt Professor Gottschling daher die Einnahme dieser Schmerzmittel bei seinen Patienten auf 5 Tage pro Monat.

Bei Paracetamol, das die Leber stark belastet, sieht er keinen echten Wirkvorteil gegenüber einem Placebo.

Das verschreibungspflichtige Metamizol/Novaminsulfon mit muskelkrampflösender Wirkung habe zwar keine antientzündlichen Eigenschaften, doch sei es das sicherste und wirksamste Nicht-Opioid-Schmerzmittel, das für eine längerfristige Therapie zur Verfügung stehe.

Das Buch enthält viele weitere Informationen, zum Beispiel zu den am schwierigsten zu therapierenden Nervenschmerzen, aber auch zu »muskulär verkümmerten Couchmonstern«. Oder solchen, die ihren Stress mit Muskelverspannungen aller Arten auszugleichen suchen; explizit diesem Aspekt widmet sich das Buch Sich vom Schmerz befreien: Spannungen abbauen – Ins Gleichgewicht kommen – Beschwerdefrei leben.

Auf jeden Fall ist Rüssel hoch! auch in der Schmerztherapie ein großer Pluspunkt. Eine positive Grundhaltung geht mit besseren Therapieeffekten einher. Die Behandlungserfolge seien bei »Chancendenkern« wesentlich größer als bei »Bedenkenträgern« mit Neigung zur Katastrophisierung oder »ängstlichen Vermeidern« mit ausgeprägtem Schonverhalten. 

Auch wenn es nicht leicht ist, dem eigenen Schmerz keinen inneren Widerstand mehr entgegenzusetzen und bewusst in die Entspannung zu gehen, wo sich doch alles in uns gegen den akuten Schmerz anspannen möchte – nur so vermeiden wir, in der Schmerzspirale immer weiter nach unten zu strudeln.

[…] Weisheit und Liebe werden klein,
Trost wird und Hoffnung dünn und flüchtig;
Schmerz liebt uns wild und eifersüchtig,
wir schmelzen hin und werden Sein.
Es krümmt die irdne Form, das Ich,
und wehrt und sträubt sich in den Flammen.
Dann sinkt sie still in Staub zusammen
und überläßt dem Meister sich.

Hermann Hesse, Fortsetzung des obigen Gedichts In Schmerzen (1933)

Professor Gottschling rät uns bei starken, länger anhaltenden Schmerzen nicht dazu, sie um jeden Preis aushalten zu wollen. Schmerzen härten nämlich nicht ab, sondern machen immer empfindlicher, werden chronisch. Er möchte, dass wir uns vor allem eines merken:

»Es gibt ein Recht auf eine angemessene Schmerzbehandlung! Das dürfen Sie jederzeit für sich selbst einfordern und erst recht für Ihr Kind. […] Sprechen Sie mit Ihrem Arzt über Ihre Schmerzen!«

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