Buchvorstellung zum Welthospiztag – »Abschied braucht Zeit«

Cover fürs Buch »Abschied braucht Zeit«

»Savoir-vivre« nennen viele Deutsche die französische Lebensart, das Leben zu genießen. Im Französischen wird der Ausdruck »Savoir-vivre« jedoch ausschließlich für das Wissen um gute Umgangsformen verwendet. Die Franzosen selbst sprechen nicht von »savoir-vivre« (wörtlich »wissen zu leben«), sondern von »l’art de vivre« (der Kunst zu leben). – Zitat aus meinem Paris-Roman Der Elefant des Sonnenkönigs

Ars vivendi und Ars moriendi
Als Gegenbegriff zur Ars vivendi (der Kunst des Lebens) – mit der ich mich gemäß meinem Lebensmotto Rüssel hoch! viel öfter und lieber beschäftige – gilt die Ars moriendi (die Kunst des Sterbens). Im Spätmittelalter verstand man unter Ars moriendi sogar eine eigene Literaturgattung, die sogenannte Erbauungsliteratur. Das waren volksnahe Schriften, welche die Kunst des heilsamen Lebens und Sterbens lehrten. Im Mittelpunkt stand die Verinnerlichung – die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen, und damit verknüpft die christliche Vorbereitung auf einen das Leben gut abschließenden Tod.

Genau darum geht es in dem 295-seitigen Sachbuch Abschied braucht Zeit – Palliativmedizin und Ethik des Sterbens, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. Den Text eines gesamten Buches in Kursivdruck darzubieten, empfanden meine lesenden Augen zwar bei der Konzentration auf die Ars moriendi ein wenig störend; der Inhalt jedoch hat mir sehr gut gefallen, da der Autor sehr einfühlsam mit dieser komplexen Thematik umgeht.

Es gelingt ihm wirklich gut, herauszustellen, dass Sterbende andere Bedürfnisse haben als Menschen, die noch mitten im Leben stehen und sich wünschen, dass der Tod noch lange nicht kommt und wenn, dass sie dann abends friedlich einschlummern und im Schlaf sanft hinübergleiten. Schwerstkranke Menschen wünschen sich angesichts des Todes vielmehr ausreichend Zeit für den Abschied, keine Schmerzen zu spüren und dem Tod ohne Furcht begegnen zu können.

Der Autor, Prof. Dr. Hans Christof Müller-Busch (* 1943), war bis 2008 Leitender Arzt am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin. Die Schwerpunkte seiner klinischen Tätigkeit waren Schmerztherapie und Palliativmedizin. Seit 1994 engagiert er sich maßgeblich beim Aufbau der Palliativversorgung in Deutschland. Aus seiner Sicht sind Harmonie, Autonomieförderung und gemeinsame Sinnfindung die drei wesentlichen Elemente der Würde einer guten palliativen Begleitung bis in die Todesstunde. Er hat selbst erlebt, wie kostbar und wichtig die Zeit des Abschieds ist, und formuliert seine persönliche Ars moriendi am Schluss des Buches so:

Zeit haben für den Abschied
Ja, auch ich wünsche mir, genügend Zeit zum Abschied zu haben. Diese muss nicht lang sein – aber lang genug, um für die Tatsache meines Todes im Leben der Bleibenden einen Platz zu finden. Auch wenn ein »schneller Tod« für den, der stirbt, vielleicht ein besserer ist, für die Überlebenden ist der bessere Tod derjenige, wenn im Sterben Zeit zum Abschied gefunden wurde.

Ich habe von Sterbenskranken und Sterbenden in dieser Hinsicht viel gelernt und bewahre diesen Schatz mit großer Sorgfalt. Zeit zum Abschied ist nicht planbar – aber sie zu finden, kann dazu beitragen, im Moment der Unausweichlichkeit nicht hilflos zu sein. Es ist wichtig, die Allgegenwart des Todes zu akzeptieren – auch wenn er uns nicht oder noch nicht unmittelbar betrifft. Die Zeit zum Abschied ist nicht planbar – auch sie ist ein Geschenk.

Sterben begleiten heißt leben lernen. Sterben gehört zum Leben – es findet statt, jeden Tag, jeden Augenblick. Und so bedeutet von Sterbenden zu lernen auch, für das eigene Sterben zu lernen.

Auch in einer Zeit, in der Sterben und Tod zwar allgegenwärtig sind, das eigene Sterben jedoch so lange es irgendwie geht tabuisiert wird, bleibt die Vorbereitung des Sterbens eine intellektuelle und moralische Herausforderung, der sich alle stellen müssen, denn nichts ist so gewiss, wie die Tatsache, dass wir sterblich sind.

Was ist ein guter Tod?
Vor dem Hintergrund seiner professionellen Erfahrungen mit sterbenskranken Menschen fand ich Christof Müller-Buschs persönliche Vorstellungen eines guten Sterbens hochinteressant. Sie sind nachfolgend stark verkürzt wiedergegeben:

  • Ich wünsche mir, die Zeichen, die mitteilen, wann der Tod kommt, erkennen zu können, ihm nicht mit Erschrecken und Angst zu begegnen, sondern vielleicht sogar mit Neugierde, vor allem mit einer inneren Ruhe, die wie herrliche Musik durch meine Seele zieht.
  • Ich möchte dem Tod nicht die Tür öffnen, aber ich möchte mitbestimmen können, wann sich die Tür öffnen darf.
  • Ich wünsche mir, dass mir bis zuletzt die Kontrolle über meinen körperlichen Funktionen erhalten bleibt.
  • Ich wünsche mir, dass die Würde der Sterbesituation von allen Menschen, die dabei sind, auch in ihrer Stimmigkeit empfunden werden kann.
  • Ich wünsche mir eine gute palliativmedizinische Betreuung und eine einfühlsame Begleitung, wenn ich unter belastenden Symptomen wie Atemnot, Übelkeit, Schwäche, Schlaflosigkeit und Schmerzen leide.
  • Wenn es geht, möchte ich in einem Sessel sitzend oder sogar stehend dem Tod entgegensehen – in einer schönen Umgebung.
  • Ich möchte wissen, was kommt – ich möchte, dass man mir nichts vorenthält und mit Wahrhaftigkeit antwortet, wenn ich frage.
  • Ich wünsche mir, dass meine Suche nach Sinn dazu beiträgt, dass ich in einem Gefühl der Sicherheit, das die Menschen, die mich begleiten, einschließt, und mit einem Lächeln im Gesicht sterben kann.
  • Ich wünsche mir einen Kümmerer, der weiß, worauf es ankommt und mit Gefühl die Dinge anpackt, die wichtig sind, wenn ich dazu nicht mehr in der Lage bin.
  • Ich bitte meinen Kümmerer, sich bei den Deutungen meiner von mir nicht mehr selbst gestaltbaren Lebenssituation an die Bemerkung von Cicely Saunders zu erinnern, »dass es Zeiten gibt, in denen es im Interesse der Gesundheit liegt, zu sterben. Es ist nicht gesund, das Sterben hinauszuziehen.«
  • Ich wünsche mir, das diejenigen, die in meiner Sterbestunde dabei sind, die Wirklichkeit meines Todes in seiner Bedeutsamkeit für ihr Leben und ihre Zukunft annehmen können. Und dass diejenigen, die nicht dabei sein können, nicht das Gefühl haben, etwas versäumt zu haben.

Das waren einige der tief berührenden Wünsche eines Sterbekundigen zur wohl wichtigsten existentiellen Erfahrung, die das Leben irgendwann für uns alle mit sich bringt. Denn jeder Mensch stirbt seinen eigenen Tod, damit leben müssen jedoch andere. Für Zurückbleibende muss dies nicht nur Abschied, Tod und Erinnerung bedeuten, sondern der Trauerweg kann auch zu einem Weg der Selbstwerdung werden, zu einem Erfahrungsgewinn existentieller Bedeutung – für einen Neubeginn.

Jeder, der sich am Ende seines Lebens nicht der hyperaktiven, hypermodernen und hypertechnisierten Heilungsmaschinerie ausliefern möchte, sollte sich rechtzeitig über die Zeit des Abschieds Gedanken machen. Ich habe das in meinem Roman RELING getan, in dem ich mich in mein hundertjähriges Zukunfts-Ich versetzt habe. Zur Auseinandersetzung mit dieser Thematik gehörte für mich auch die Erstellung einer Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung, auch aus Liebe zu meinen Angehörigen, die in eventuell eintretenden Grenzsituationen wichtige Entscheidungen im Sinne eines würdevollen Abschieds und einer Vermeidung sinnlosen Leidens am Ende meines Lebens treffen müssen. Denn – so lautet die Übersetzung eines Zitats aus der Oxford University Press im Buch: »Palliativmedizin bedeutet nicht, dem Leben bei fortgeschrittenen Erkrankungen mehr Zeit, sondern der verbleibenden Zeit mehr Leben zu geben.«

Je älter wir werden, desto mehr verändert sich für uns die Zeitperspektive, desto wichtiger wird für uns nicht nur die Ars vivendi, sondern als ein Teil davon auch die Ars moriendi. Das Buch Abschied braucht Zeit – Palliativmedizin und Ethik des Sterbens gibt Halt und hilft mit einer Fülle guter Gedanken beim Finden der eigenen Haltung zu Ars moriendi. Der Welthospiztag, der jährlich am zweiten Samstag im Oktober begangen wird, mag für manch einen ein passender Anlass sein, über Themen nachzudenken, die man sonst eher verdrängt wie Sterben, Abschied, Tod und Trauer. Ich werde das Buch Abschied braucht Zeit bestimmt noch ein zweites Mal lesen.

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