Elefantöses – Der Goethe-Elefant
Ceylon (Sri Lanka), 1771:
Ein junger Asiatischer Elefant wird von Tierhändlern eingefangen und nach Europa verschifft.
Kassel, September 1773:
Der etwa 2-jährige Elefant aus Ceylon (Sri Lanka) trifft über die Niederlande nach Bremen und von dort weiter auf Weser und Fulda in Kassel ein. Wie der Kasseler Oberhofbaumeister berichtet, ist der Elefant nicht viel größer als ein Esel und sehr zahm. Er ist das Hochzeitsgeschenk Prinz Wilhelm V. von Oranien, der in Den Haag eine gut ausgestattete Menagerie unterhält, an Friedrich II., den Landgrafen von Hessen-Kassel. Der Jungelefant wird in der Menagerie des Landgrafen unterhalb der Bellevue-Terrasse in der Karlsaue untergebracht. Im ehemaligen Lusthaus des Prinzen Maximilian, das zur Menagerie umgebaut wurde, wird er neben anderen Tieren in einem eigenen Saal untergebracht, der gut beheizt und gut beleuchtet ist.
Solche höfischen Menagerien sind in Europa in Mode gekommen, nachdem der französische Sonnenkönig Ludwig XIV. (1638 – 1715) die damals weltberühmte Versailler Menagerie für exotische Tiere hat errichten lassen. (Mehr darüber findet sich in dem Roman »Der Elefant des Sonnenkönigs«. In der Versailler Menagerie lebte ein Afrikanischer Elefant (von 1668 bis 1681), der ein ähnliches Schicksal teilte wie der Asiatische Elefant der Kasseler Menagerie, der nach seinem Tod als der Goethe-Elefant bekannt wurde.)
Die Versorgung eines Elefanten (50 Pfund Brot und Gelbe Rüben, 24 Pfund Heu und bis zu 20 Eimer Wasser am Tag) kostet damals schätzungsweise 500 Goldtaler im Jahr – zum Vergleich: eine bürgerliche Familie muss im gleichen Zeitraum von etwa 150 Talern leben. Kein Wunder, dass der Kasseler Elefant zeitweise als Arbeitstier im Auepark eingesetzt wird. In den sieben Jahren, die er in Kassel lebt, trägt er schwere Lasten, schleppt Bäume, zieht Wagen und transportiert große Gerätschaften.
Auch bei Opernaufführungen wird er eingesetzt, die ihm aber anscheinend nicht so behagen. Doch mit seinen Kunststücken erfreut er besonders die Kinder, indem er rechts und links Verbeugungen mit den Vorderknien macht, wenn sie ihm Brot reichen. Bald ist der kleine Elefant der Liebling der Kasseler Bürger.
Kassel, Januar 1780:
Mit neun Jahren stürzt der Kasseler Elefant bei der Arbeit den steilen Abhang der »Schönen Aussicht« zur Fulda hinab und stirbt in der Karlsaue.
Gemäß einer anderen Version soll er so gestorben sein:
«Der Garten des Prinzen Maximilian […] bildet seit 1764 die Menagerie. Dort befand sich u. a. als Hauptsehenswürdigkeit ein junger Elefant, dessen Elefantenhaus jetzt in der Fasanerie zu Wilhelmshöhe steht. Sein Ende war recht tragisch. Man hatte ihn im Opernhaus zur Ausstattung einer Oper gebraucht und führte ihn auf dem Rückweg abends über die Bellevue, wo er einen Fehltritt tat und die Böschung herunterrollte.«
(Ausgabe 1916/17 der »Mitteilungen zur Hessischen Geschichte«)
Samuel Thomas von Soemmerring (1755 – 1830), einen der bedeutendsten deutschen Anatomen, seziert und präpariert den Leichnam des Elefanten. Damit erhält die landgräfliche Naturaliensammlung als erste in Nordeuropa das Ganzpräparat eines Großsäugers.
Kassel, September 1783:
Der Dichter und Naturforscher Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) besucht Soemmering und schaut sich im Museum Fridericianum auch das Elefantenskelett an.
Jena, 27. März 1784:
Goethe untersucht Tier- und Menschenschädel, auch von menschlichen Embryonen. Dabei sieht er als Grenze des Zwischenkieferknochens gegen die Gaumenfortsätze des Oberkiefers eine quere Naht, die sich zwischen dem Eckzahn und dem zweiten Schneidezahn verliert, die Mensch und Tier gemeinsame Sutura incisiva.
Damit hat Goethe (wieder-)entdeckt, dass der Mensch – wie bei Tieren bereits bekannt – über einen embryonal angelegten Zwischenkieferknochen verfügt, der bereits vorgeburtlich mit dem Oberkiefer verschmilzt. Bei den Säugetieren bleibt diese auch als Sutura Goethe bezeichnete Knochennaht zum Oberkieferbein lange sichtbar.
Die Forscher jener Zeit bezweifeln, dass es beim Menschen, wie es bei den Wirbeltieren der Fall ist, einen Zwischenkieferknochen (oder Kieferbein) gibt. Die Existenz dieses Zwischenkieferknochens ist für Goethe daher eine kleine Sensation. Er wertet die Wiederentdeckung als einen Hinweis auf die gemeinsame stammesgeschichtliche Entwicklung von Mensch und Tier.
Der Kasseler Elefant besaß übrigens keine sichtbaren Stoßzähne, sondern nur Ansätze dazu. Von den Asiatischen Elefanten in Sri Lanka haben nur ca. sieben Prozent der Elefantenbullen sichtbare Stoßzähne und die weiblichen Elefanten haben nur rudimentäre oder gar keine Stoßzähne.
Eisenach, 1784:
Vom Frühjahr bis in den Herbst hinein betreibt Goethe systematische Schädeluntersuchungen und leiht sich dafür auch von Soemmerring den Kasseler Elefantenschädel als Vergleichsobjekt aus, um daran seine anatomischen Forschungen zum Zwischenkieferknochen weiter voranzutreiben. Am 9. Juni schreibt er an Soemmerring:
»Sie haben mir durch die Übersendung des Elephanten-Schädels ein groses Vergnügen gemacht. Er ist glücklich angelangt, und ich verwahre ihn in einem kleinen Cabinete, wo ich ihm heimlich die Augenblicke widme, die ich mir abbrechen kann, denn ich darf mir nicht merken lassen, daß ein solches Ungeheuer sich in’s Haus geschlichen hat. Mein Wunsch wäre nur, ihn mit nach Weimar nehmen zu können, von da Sie ihn längstens Anfang September, wenn Sie ihn nicht eher brauchen, zurück haben sollen. […] Ich mögte ihn gar gerne mit einem grosen Schädel, den wir besitzen, und mit anderen Thierschädeln vergleichen, besonders da meine Hoffnung, die meisten Suturen und Harmonien unverwachsen zu finden, glücklich eingetroffen ist.« Seiner engen Freundin, Frau von Stein, schreibt er begeistert: »Ich habe den Schaedel in meinem Zimmergen versteckt, damit man mich nicht für toll hält. Meine Hauswirthin glaubt, es sey Porzellan in der ungeheuren Kiste.«
(Wenzel, M. (Bearb. & Hrsg.) (1988b): Goethe und Soemmerring. Briefwechsel 1784-1828. Textkritische und kommentierte Ausgabe. – Soemmerring-Forschungen, 5: 179 S., Stuttgart, Gustav Fischer)
1820:
Goethe publiziert seine vergleichend-anatomischen Studien »Über den Zwischenkiefer des Menschen und der Tiere«. Ab diesem Zeitpunkt wird das Kasseler Elefantenskelett als Goethe-Elefant bezeichnet.
Im gleichen Jahr wird auch die obige Sepiazeichnung des Goethe-Elefanten von Johann Heinrich Tischbein d. J. (1742 – 1808) veröffentlicht, die den Asiatischen Elefanten kurz nach seiner Ankunft als kleines, tapsiges Rüsseltier zeigt.
1929:
Die Stadt Kassel übernimmt das »Königlich preußische Naturalienmuseum«.
1938:
Der präparierte Elefant wird auf einem Lastwagen durch Kassel gefahren und ist danach in allen Zeitungen abgebildet.
1943:
Während eines Bombenangriffs auf Kassel verbrennt die naturgetreu präparierte Dermatoplastik des Elefanten. Doch das Elefantenskelett bleibt bis heute erhalten.
2012:
In der neugestalteten historischen Dauerausstellung des Kasseler Naturkundemuseums im Ottoneum gehört das über 200 Jahre alte Skelett des Goethe-Elefanten zu den bedeutendsten Ausstellungsstücken, neben der ebenfalls über 200 Jahren alten Schildbachschen Holzbibliothek und dem 400 Jahre alten Herbarium Ratzenberger.
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