Buchvorstellung – »Lass dein Hirn nicht sitzen«

Cover fürs Buch »Lass dein Hirn nicht sitzen«

»Ich habe eine Mission. Ich will jedem, Jung und Alt, nahebringen, wie ernst die Folgen von Bewegungsmangel sind und wie viel wir von Bewegung profitieren können. Das ist nicht nur für unsere Gesundheit heute wichtig, sondern auch für die Gesundheit in Zukunft. […] Bewegungsmangel in Einrichtungen für kognitiv empfindliche Menschen, wie Senioren mit Demenz oder geistig Behinderte, muss ein No-Go werden. […] Diese Einstellung will ich erreichen, und dafür braucht es eine breit angelegte Strategie, genau wie beim Rauchen. Nicht umsonst heißt es: Sitzen ist das neue Rauchen.«

So lautet auszugsweise das Schlusswort von Erik Scherder, dem bekannten niederländischen Neuropsychologen und Bewegungstrainer, der das 204-seitige Sachbuch verfasst hat Lass dein Hirn nicht sitzen: Wie Bewegung das Denken verbessert, Depressionen lindert und Demenz vorbeugt, C. H. Beck Verlag, München 2016, aus dem Niederländischen übersetzt von Claudia van den Block.

Die vielen zitierten Studien, die am Schluss 20 Seiten lang aufgeführt werden, wirken etwas zusammengewürfelt. Jedoch tragen die 22 Abbildungen zu einem besseren Verständnis bei, warum zu viel Sitzen mittlerweile weltweit die vierthäufigste Todesursache ist. Es folgen einige interessante Aspekte aus den 8 Kapiteln:

1 Lieber faul als müde
Bereits die erste Abbildung verbildlicht, dass Rauchen und körperliche Inaktivität zurzeit beinahe gleich viele Todesfälle verursachen, nämlich jeweils etwa fünf Millionen weltweit pro Jahr. Die zweite Abbildung mit dem Titel »Europa sitzt« zeigt, dass beispielsweise in den Niederlanden 35 Prozent der Bevölkerung im Schnitt sieben bis sechzehn (!) Stunden täglich sitzen; Deutschland liegt prozentual nur knapp darunter.

Scherder führt eine große australische Studie an, bei der 222.497 Erwachsene in einem Alter von über 44 Jahren knapp 5 Jahre beobachtet wurden. In dieser Zeit starben 5.405 Personen. Das Sterberisiko war umso höher, je länger die tägliche Sitzzeit war.
Ploeg, van der, H. P., Chey, T., Korda, R. J., Banks, E., Bauman, A., Sitting time and all-cause mortality risk in 222.497 Australian adults, in: Archives of Internal Medicine 2012; 172(6), 494-500)

–> Das gilt sogar für Sporttreibende, denn selbst wer täglich eine halbe Stunde sportlich aktiv ist, kann immer noch etwa 14 bis 16 wache Stunden täglich sitzend vor einem Bildschirm verbringen!

2 Im Pflegeheim
Scherder fragt bei seinen Vorträgen oft die Älteren im Publikum, was ihr kostbarster Besitz sei und bekommt gewöhnlich zur Antwort: »Meine Selbstständigkeit!« Denn für die meisten sei Abhängigkeit von anderen die Schreckensvorstellung vom Alter schlechthin. Es hat Vorteile, wenn man so lange wie möglich zu Hause bleibt. Scherder schreibt:

»Wenn man für sich selbst sorgen will, muss man auch planen, was es zu Essen geben soll; man muss Treppen steigen, auch wenn vielleicht die Knie schmerzen, zum Supermarkt gehen und dort bezahlen, die Einkäufe nach Hause tragen, Essen kochen, kurz: den Alltag bewältigen. Das ist ideal für das alternde Gehirn! Denn gerade der Frontallappen (der präfrontale Kortex) muss stimuliert werden, er braucht die Sorgen des Alltags, die tagein, tagaus eine Lösung erfordern. Dadurch nimmt der Stoffwechsel in diesem Hirnareal zu und die genannten Funktionen bleiben so lange wie möglich erhalten.«

Üblicherweise nimmt das Personal eines Pflegeheims diese täglichen Sorgen ab, was bedauerlich ist, denn dadurch erhöht sich das Risiko der Pflegebedürftigen, ihre Selbstständigkeit bzw. die entsprechenden kognitiven Fähigkeiten zu verlieren. Eine Studie zeigte, dass neunzehn Bewohnerinnen eines Pflegeheims zwischen 10 und 16 Uhr ungefähr 18 Prozent ihrer Zeit im Gehen, 7,5 Prozent im Stehen, gut 55 Prozent im Sitzen und rund 17 Prozent im Liegen verbrachten, also ein inaktives Leben führten, obwohl sie an keiner ausgeprägten Demenz oder den Folgen eines Schlaganfalls litten.
(Ikezoe et al., Daytime physical activity patterns and physical fitness in institutionalized elderly women: An exploratory study, in: Archives of Gerontology and Geriatrics 2013; 57, 221-5)

Scherder weist darauf hin, dass nicht das Pflegepersonal auf diese Missstände hingewiesen werden muss, sondern die Träger und die Politik, denn noch immer würde im Pflegesektor auf finanzielle Sachzwänge verwiesen, um die Inaktivität der Pflegebedürftigen zu begründen.

–> Unfassbar, was mit »finanziellen Sachzwängen« gemeint ist, nämlich die Tatsache, dass die Einrichtung mehr Geld bekommt, je mehr Pflege jemand erhält, und deswegen selten daran gelegen ist, dass Pflegeheimbewohner/innen möglichst aktiv sind!

3 Im Krankenhaus
»Sie haben mich einfach liegen lassen.«
»Im Bett zu liegen ist das Stadium vor dem Sterben.«
Dieselbe traurige Realität findet sich im Krankenhaus. Ein Aufenthalt führt für Ältere oft direkt in eine dauerhafte Bettlägerigkeit, zumindest in eine negative Spirale der »Dekonditionierung«. So reduziert sich beispielsweise täglich die Muskelkraft um 2 bis 5 Prozent, die Muskeln verkürzen sich, das Gewebe rund um die Gelenke verändert sich, die Muskelkraft der Beine nimmt ab und damit auch die Mobilität. Der Körper funktioniert durch das viele Liegen im Krankenhaus insgesamt immer schlechter. Nur eine kleine Einbuße der Muskelkraft oder eine geringe Zunahme an Körpergewicht, wodurch die Muskelkraft für den Alltag auf einmal nicht mehr ausreiche, könne – so Scherder – entscheidend sein, ob man seine Selbstständigkeit behalte oder nicht.
(Brown et al., The underrecognized epidemic of low mobility during hospitalization of older adults, in: Journal of the American Geriatric Society, 2009; 57, 1660-5)

–> Gerade bei älteren Menschen sind häufig Selbstständigkeit und Pflegebedürftigkeit nur durch einen schmalen Grat voneinander getrennt.

4 Aufregen erwünscht!
In diesem Kapitel erklärt Scherder, wie das Gehirn funktioniert. Der unterste Teil des Gehirns steuere lebensnotwendige Prozesse wie Atmung, Blutdruckregulierung, Schlaf-Wach-Rhythmus und die Regulierung der Körpertemperatur. Ebenso grundlegende motorische Funktionen wie Körperhaltung, Gehen, Gleichgewicht und die Koordination grober Bewegungen.

Eine weitere wichtige Funktion unseres Hirnstamms ist die Erregung des Gehirns, seine Aktivierung, sodass wir aufmerksam, wach und reaktionsbereit gespannt sind. Diese Funktion ist sozusagen der Motor für unser Gehirn. Und jetzt kommt das Wichtigste: Gehen setzt diesen Motor des Gehirns in Gang, da Bewegung genau auf dieses Hirnareal stimulierend wirkt. Scherder plädiert deshalb für Treppen statt Aufzug, für Walking Meetings und Gehen bei Seminaren, für einen Spaziergang in der Mittagspause, für Gehen bei schwierigen Gesprächen und unangenehmen Entscheidungen – denn Gehen erhöht beispielsweise die Aktivität des orbitofrontalen Kortex, sodass wir einfühlsamer die Sichtweise anderer in unsere Beschlüsse miteinbeziehen können.

–> Gehen (nicht Sitzen!) setzt den Motor des Gehirns in Gang!

5 Die Weisheit des Gehens
Tierversuche zeigen, dass körperliche Aktivität zu einer Erhöhung der Neurotransmitter führt, die zur Bildung neuer Nervenzellen anregen, vor allem im Hippocampus, der sowohl für unser Gedächtnis zuständig ist als auch eine dämpfende Wirkung auf die sogenannte Stressachse hat. Dies führt zur Stressminderung, da weniger Cortisol produziert wird.
(Cristie et al., Exercising our brains: how physical activity impacts synaptic plasticity in the dentate gyrus, in: Neuromolecular Medicine 2008; 10(2), 47-58) 

Außerdem kommt es beim Gehen zur Ausbildung längerer und komplexerer Dendriten, welche die elektrischen Impulse von der dazugehörigen Nervenzelle weg und zu ihr hin bewirken. Diese verbesserte Wirkung von Neurotransmittern führt auch zu einer verbesserten Durchblutung des Gehirns, was die Leistungsfähigkeit erhöht.

–> Die Weisheit des Gehens war schon Wolfgang Amadeus Mozart bekannt: »Wenn ich recht für bin und guter Dinge, etwa auf Reisen im Wagen oder nach guter Mahlzeit beim Spazieren, und in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann: da kommen mir die Gedanken stromweis und am besten.«

6 Kondition und Kognition
Gemäß Scherder ist Bewegung das Optimum zur Stimulation des Gehirns, denn folgende Signale gehen an das Gehirn:

  • Regulierung des Blutdrucks, des Cholesterinspiegels, Stärkung des Herzens,
  • positive Auswirkung auf Glücksempfinden, Zufriedenheit und Selbstvertrauen,
  • Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten, insbesondere kognitive Flexibilität, Planung, Aufmerksamkeit, Impulskontrolle, Arbeitsgedächtnis und kognitive Kontrolle – genau jene Fähigkeiten, von denen der Grad unserer Selbstständigkeit abhängt.

–> Wer dem Gehirn etwas Gutes tun möchte, dem empfiehlt Scherder täglich (!) etwa 30 bis 45 Minuten am Stück (!) zügig bzw. strammen Schrittes zu gehen. Das Herz müsse sich dabei deutlich anstrengen, man müsse fühlen, dass es Mühe mache wie etwa Treppensteigen. Nur dann erfülle Bewegung die Voraussetzungen, kognitive Funktionen beeinflussen zu können.

Nach Scherder bietet das Tanzen die ultimative stimulierende Umgebung für das Gehirn.

7 Die Heilkraft der Bewegung
Scherder zitiert eine eigene Meta-Analyse von Bewegungsstudien und gibt vor allem zwei Hinweise:

  • Der größte Effekt von körperlicher Aktivität auf kognitive Fähigkeiten sei bei vorher inaktiven Menschen zu erwarten.
  • Es sei vor allem angeraten, einfach nur zu gehen. Man brauche keine zusätzliche Ausrüstung, gehen könne man überall.

(Scherder, E. et al., Executive Functions of Sedentary Elderly May Benefit from Walking: A Systematic Review and Meta-Analysis, in: American Journal of Geriatric Psychiatry 2013; S1064-7481, (12), 001364

Lautenschlager, N. T., Cox, K. L., Flicker, L., Foster, J. K., van Bockxmeer, F. M., Xiao, J., Greenop, K. R., Almeida, O. P., Effect of physical activity on cognitive function in older adults at risk for Alzheimer’s disease: a randomized trial, in: Journal of the American MedicalAssociation (JAMA) 2008; 300(9), 1027-37)

8 Kauen ist auch Bewegung!
Kauen bringt das Gehirn in Gang – ein überraschendes Schlusskapitel.

Ich habe für mich mitgenommen, dass Nahrung unterschiedlicher Härte zu einer erhöhten Aktivität in verschiedenen Hirnarealen führt, unter anderem im Gyrus temporalis superior, einem Bereich, der eine wichtige Rolle spielt bei komplexen kognitiven Prozessen wie Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Empathie oder Gesichtserkennung. Natürlich hängt dies auch mit einer besseren Durchblutung des Gehirns beim Kauen zusammen. Zudem wirke Kauen stress- und schmerzmindernd.

Scherder fragt, was zum Vorschein kommt, wenn man die Deckel auf den Tabletts in psychogeriatrischen Abteilungen lüftet? – Brei und Pudding. Für Menschen mit Schluckproblemen sei das auch passend, aber ein Großteil der Menschen dort könne durchaus noch ordentlich kauen.

Selbst die Kaubewegung wird am Ende des Lebens oft auf Null reduziert, musste ich unwillkürlich denken. Ich verstand jetzt die Zweideutigkeit des Buchtitels: Lass dein Hirn nicht sitzen! Nach den von Scherder dargestellten Zusammenhängen, muss sich sicherlich jeder bei der Frage, wie viele Stunden er täglich sitzt, an die eigene Nase fassen.

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