Buchvorstellung – »Wüstenblume«
Ich mag Rüssel-hoch-Biografien. Damit meine ich wahre Lebensgeschichten, die uns Mut machen, die uns zeigen, dass sich trotz widrigster Umstände unser Leben wenden kann, wenn wir an uns selbst glauben. Waris Dirie ist so jemand, der Wie Phönix aus der Asche stieg.
Die 392-seitige Autobiografie Wüstenblume, Droemer Knaur Verlag, München 2018, handelt von einer etwa 1965 geborenen Afrikanerin (- in ihrer Kindheit gab es keine Uhren, Kalender etc.), die aus einer muslimischen, zur Ethnie der Somali gehörenden Nomadenfamilie stammt, die zum Clan der Darod zählt. Dieser macht etwa ein Viertel der Bevölkerung Somalias aus. Waris Dirie wuchs – immer am Rande des Hungertodes – unter dermaßen harten Lebensbedingungen auf, wie wir Europäer sie uns kaum vorstellen können.
Trotzdem empfand sie es als »eine reine Lust, als Kind in der Wildnis aufzuwachsen, frei in ihr herumzulaufen, ein Teil von ihr zu sein und ihren Anblick, ihre Klänge, ihre Gerüche in sich aufzunehmen … An Waldgebiete stießen wir nur selten, aber wenn es doch einmal geschah, taten wir nichts lieber, als die Elefanten zu beobachten. Sobald wir in der Ferne ihr schmetterndes Trompeten hörten, kletterten wir in die Bäume, um sie ausfindig zu machen … Wir Kinder standen oben im Baum und freuten uns. Den Elefanten konnten wir stundenlang zusehen.«
Mit fünf Jahren wird sie einer Genitalbeschneidung in Form einer Infibulation unterzogen, die einer Folter gleichkommt. Damit soll Geschlechtsverkehr verhindert werden, damit ein Mädchen bis zu seiner Heirat Jungfrau bleibt. Beim ersten Geschlechtsverkehr wird die Infibulation teilweise, zum Gebären eines Kindes vollständig geöffnet. Danach erfolgt die Re-Infibulation.
Bei diesem in einigen afrikanischen Kulturen noch immer praktizierten brutalen Ritual werden nicht nur die äußeren weiblichen Genitalien wie Klitoris, kleine Schamlippen und Innenseiten der großen Schamlippen entfernt, sondern anschließend die Genitalöffnung weitgehend wieder verschlossen, entweder mit Dornen verklammert oder mit Tierdarm vernäht. Unvorstellbar grausam! Und immer noch müssen diese Tortur täglich etwa 600 Mädchen ohne Betäubung (!) erdulden. Wahnsinn, was für Qualen diese Mädchen bei dem Eingriff und in der Folge erleiden!
Einige sterben an den Folgen dieses entsetzlichen Eingriffs. Warris Dirie informiert, dass es häufig zu Komplikationen kommt wie Schockzuständen, Infektionen, Schädigungen der Harnröhre und des Afters, Vernarbungen, Tetanus, Blasenentzündungen, Blutvergiftungen, Aids und Hepatitis B sowie zu Langzeitschäden wie chronischen und wiederkehrenden Harnröhren-, Blasen- und Beckenentzündungen, die zu Sterilität, Zysten und Abszessen an der Vulva führen können, schmerzhaften Neuromen (Wucherungen von Nervengewebe), zu Problemen beim Urinieren, Dysmenorrhö (starken Schmerzen bei der Regelblutung), Stauung von Menstruationsblut in der Bauchhöhle, Frigidität und Depressionen.
Waris Dirie schreibt: »Trotz meines Zorns darüber, was man mir angetan hat, gebe ich nicht meinen Eltern die Schuld daran. Ich liebe meine Mutter und meinen Vater. Meine Mutter hatte über meine Beschneidung nicht zu bestimmen, denn als Frau verfügte sie über keinerlei Mitspracherecht. Sie machte mit mir einfach das Gleiche, was man mit ihr gemacht hatte und was vorher schon ihrer Mutter und wiederum deren Mutter widerfahren war. Und mein Vater hatte keinerlei Vorstellung von dem Leiden, das er mir damit zufügte; er wusste nur, dass in unserer somalischen Gesellschaft seine Tochter beschnitten sein musste, wenn sie heiraten wollte, andernfalls hätte kein Mann sie haben wollen.«
Mit dreizehn Jahren flüchtet Waris (ihr Vorname bedeutet Wüstenblume) vor der Zwangsverheiratung und schlägt sich mit diversen Putzjobs durchs Leben, bis die bildschöne Frau zufällig von dem englischen Fotografen Terence Donovan entdeckt wird und schließlich Karriere als internationales Top-Model macht. Auf dem Höhepunkt ihrer Model-Karriere berichtet sie erstmals einer Journalistin über das Trauma ihrer Beschneidung und löst damit ein weltweites Medienecho aus. Im selben Jahr – von 1997 bis 2003 – wird sie US-Sonderbotschafterin gegen die weibliche Genitalverstümmelung (FGM – Female Genital Mutilation).
1998 veröffentlicht sie ihre Autobiografie Wüstenblume, 2001 erscheint Nomadentochter und 2005 ihr drittes Buch Schmerzenskinder. Alle drei wurden internationale Bestseller.
2002 gründet sie ihre eigene Organisation, die Desert Flower Foundation in Wien, um auf das Problem von FGM aufmerksam zu machen. Sie sammelt Spendengelder, um Betroffenen zu helfen. 2009 wird sie Mitgründerin der PPR Foundation for Women’s Dignity und Rights.
In Wüstenblume schildert Waris Dirie in ganz einfachen, authentischen Worten den Verlauf ihres Lebens. Was sie alles mitgemacht hat, ist mir zu Herzen gegangen. Dank ihrer inneren Stärke und eines glücklichen Zufalls hat sie – trotz einiger Rückschläge – nicht nur ihren Weg in die Unabhängigkeit gemeistert, sondern auch ihr persönliches Glück gefunden. Trotz ihrer genitalen Verstümmelung, welche ihr die Weiblichkeit gestohlen und jahrzehntelang Schmerzen bereitet hat, hat sie inzwischen zwei Söhnen das Leben geschenkt und lebt seit 2009 in Danzig, zeitweise auch in Wien.
Bis heute kämpft diese starke Frau gegen die FGM und für die Rechte afrikanischer Frauen. Seit 2016 ist die Bildung in Afrika zu einem Schwerpunktthema ihrer Arbeit geworden. 2019 entstanden die ersten drei »Wüstenblume Schulen« in Sierra Leone.
Über tausend Mädchen konnten allein in Sierra Leone über ihr Patenschaftsprojekt »Rettet eine kleine Wüstenblume« vor der barbarischen Genitalverstümmelung gerettet werden.
Waris Dirie hat ihrem Leben wahrhaftig einen tiefen Sinn gegeben. Ihr Schlusswort im Buch lautet: »Ich bete darum dass eines Tages keine Frau mehr diese Qual erleiden muss … Was für ein glücklicher Tag wird das sein – und darauf arbeite ich hin. In’schallah, so Gott will, wird dieser Tag kommen.«
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