Elefantös fabulös
Was ist gemeint mit »elefantös« oder im heutigen Beitrag mit »fabulös«?
In der deutschen Sprache gibt es eine Menge Wörter mit der Endung »-ös«: luxuriös, melodiös, muskulös, mysteriös, nervös, pompös, religiös, seriös, strapaziös – um nur einige zu nennen. Diese aus dem Französischen stammende Endung »-ös« (im modernen Französisch erklingt ein »s« nur noch in der femininen Endung »-euse«) bezeichnet Adjektive mit Bezug zum genannten Substantiv im Sinne von -artig, -gleich oder -mäßig im Sinne von beschaffen wie, ähnelnd, gleichend.
Elefantös wäre demnach in erster Linie alles, was typisch oder charakteristisch für einen Elefanten ist. Als Beispiel: »Die elefantöse Hauptpflege besteht darin, mit dem Rüssel Sand auf dem Körper zu verteilen, was dem Sonnen- und Mückenschutz dient.«
Einleuchtend ist für das Wort elefantös auch die Bedeutung »wuchtig, ausladend, massig, ein großes Volumen einnehmend«. So schrieb die Süddeutsche Zeitung vom 17.03.1999: »Anstelle der Bäume wird ein neun mal neun Meter breites und damit elefantöses Gebäude in das Weltkulturerbe gesetzt.«
In ähnlicher Bedeutung kann das Wort elefantös auch verwendet werden, um auszudrücken, dass etwas sehr ausgeprägt, deutlich vorhanden, besonders eindrucksvoll oder von großer Intensität ist. Beispielsweise schrieb Die Zeit vom 08.03.1996: »Ob auch liebestrunkene Insektenmännchen der elefantösen Parfümierung erliegen, wurde bisher nicht berichtet.«
Eine vierte Bedeutung von elefantös erschließt sich aus folgendem Beispiel: »Das war eine elefantöse Darbietung!“ – heißt so viel wie: Das Erlebnis war klasse, wunderschön, fantastisch, großartig!
Fabulös bedeutet »wie aus einer Fabel bzw. einem Märchen«, also einerseits, dass etwas erdichtet, andererseits aber auch fantastisch und großartig ist.
Als elefantös fabulös bzw. als großartig und fabelhaft (im doppelten Sinne!) würde ich das Gleichnis von den blinden Männern und dem Elefanten bezeichnen, das sich in verschiedenen Varianten in den jahrtausendealten Schriften des Hinduismus, Buddhismus, Jainismus und Sulfismus findet.
Es verbreitete sich – mit dem nachfolgenden im Jahr 1872 veröffentlichten Gedicht des Briten John Godfrey Saxe – auch in Europa:
»The Blind Men and the Elephant. A Hindoo fable.«
It was six men of Indostan To learning much inclined, Who went to see the Elephant (Though all of them were blind), That each by observation Might satisfy his mind. | Es waren sechs Männer aus Hindustan geneigt recht viel zu erfahren, die gingen, einen Elefanten zu sehen, (obschon blind sie alle waren), auf dass ihr Wissensdurst gestillt durch eigenes betrachtendes Verfahren. |
The First approached the Elephant, And happening to fall Against his broad and sturdy side, At once began to bawl: God bless me! but the Elephant Is very like a wall! | Der Erste näherte sich dem Elefant, zufällig stolpernd gegen breiten, massiven Körperwiderstand. Sofort schrie er auf und befand: Mein Gott, dieser Elefant ist wie eine Wand! |
The Second, feeling of the tusk, Cried, Ho! what have we here So very round and smooth and sharp? To me tis mighty clear This wonder of an Elephant Is very like a spear! | Der Zweite fühlte den Stoßzahn und rief aus: Was haben wir denn da? So rund und glatt, am Ende spitz? Für mich wird überdeutlich wahr: Dies Wunder namens Elefant gleicht einem Speer, na klar! |
The Third approached the animal, And happening to take The squirming trunk within his hands, Thus boldly up and spake: I see, quoth he, the Elephant Is very like a snake! | Der Dritte nahte sich dem Tier; zufällig dauerte es nicht lange, da erwischte und griff er den Rüssel, der sich wand, überhaupt nicht bange. Stolz tat er kund: Ich sehe schon, dieser Elefant gleicht einer Schlange! |
The Fourth reached out an eager hand, And felt about the knee. What most this wondrous beast is like Is mighty plain, quoth he; ‚Tis clear enough the Elephant Is very like a tree! | Der Vierte streckte eifrig aus die Hand und kaum, dass er das Knie erfühlte, sprach er: Klar wird mir, kein Traum, dies wundersame Elefantentier am meisten ähnelt einem Baum! |
The Fifth, who chanced to touch the ear, Said: Even the blindest man Can tell what this resembles most; Deny the fact who can This marvel of an Elephant Is very like a fan!? | Der Fünfte, zufällig das Ohr berührend, gab mit den Worten Zunder: Auch der blindeste Mann könne die Ähnlichkeit erspüren als Erkunder; wer es könne, bestreite die Fakten, doch diese Elefantenwunder sei eindeutig wie ein Fächer! |
The Sixth no sooner had begun About the beast to grope, Than, seizing on the swinging tail That fell within his scope, I see, quoth he, the Elephant Is very like a rope! | Der Sechste hatte gerade begonnen, auf dass er sich am Tier vortaste, als ihm plötzlich die Schwanzquaste auf der Suche nach seinem Heil, kam schwingend in die Quere: Wusst’ ich’s doch, zog er die Lehre, der Elefant ist wie ein Seil! |
And so these men of Indostan Disputed loud and long, Each in his own opinion Exceeding stiff and strong, Though each was partly in the right, And all were in the wrong! | Die Männer aus Hindustan disputierten lang und laut – bis zum Verdruss, jeder steif und fest darauf beharrend, die eigene Meinung wahr sein muss, und obschon jeder teilweise im Recht, redeten doch alle nur Stuss! |
Moral: So oft in theologic wars, The disputants, I ween, Rail on in utter ignorance Of what each other mean, And prate about an Elephant Not one of them has seen! | Die Moral von der Geschichte: So oft im Krieg der Theologen wird disputiert in hohen Wogen, mit Scheuklappen und völlig ignorant gegenüber dem, was andere erkannt, alle schwafeln über einen Elefant, den keiner von ihnen gesehn insgesamt! |
In dieser elefantös fabulösen Parabel steht der Elefant sinnbildlich für das große Ganze und die Blindheit der Männer für die beschränkte Fähigkeit des Menschen, die Welt in ihrer Ganzheit zu erfassen. Interessanterweise wird diese individuelle Weltsicht auch deutlich, wenn mehrere Fotografen zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind – jeder wird andere Fotos mit nach Hause bringen, nämlich ganz individuelle Fotos, die seine eigene Sicht auf die Welt widerspiegeln.
Ich finde es gar nicht schlimm, dass jeder Mensch seine eigene Sicht auf die Welt hat, denn gerade die Vielfältigkeit macht das Leben so interessant. Jedoch sollte zur eigenen Sichtweise dazugehören, nicht engstirnig, sondern auch offen für die Sichtweisen anderer zu sein. Denn nur so kann die eigene, unvollständige Wahrnehmung der Welt um sich herum – sozusagen der eigene Horizont – erweitert werden. Solange wir jedoch meinen, unsere eigene Sichtweise sei die einzig richtige und alle anderen falsch, bleiben wir für das große Ganze blind.
Der Göttinger Mathematiker David Hilbert sagte einmal einem Besucher, der unbeirrbar an einer vorgefassten falschen Meinung festhielt:
»Es gibt viele Leute mit einem geistigen Horizont vom Radius null. Den nennen sie dann ihren Standpunkt.« (Der Querschnitt, Jg. XI, Ausgabe 1, 1931, S. 134)
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