Buchvorstellung – »Die Mitternachtsbibliothek«
Ein Roman für alle, die sich auch schon einmal gefragt haben, was passiert wäre, wenn sie sich an bestimmten Gabelungen ihres Lebensweges anders entschieden hätten? Oder wenn sich etwas ungeschehen oder anders machen ließe, was sie vielleicht bereuen? Die Idee von Matt Haigs Bestseller-Roman Die Mitternachtsbibliothek, Droemer Knaur Verlag, München 2023, aus dem Englischen übersetzt von Sabine Hübner, wird im Klappentext wie folgt skizziert:
Stell dir vor, auf dem Weg ins Jenseits gäbe es eine riesige Bibliothek, gesäumt mit all den Leben, die du hättest führen können. Buch für Buch gefüllt mit den Wegen, die deiner hätten sein können.
Hier findet sich Nora Seed wieder, nachdem sie aus lauter Verzweiflung beschlossen hat, sich das Leben zu nehmen. An diesem Ort, an dem die Uhrzeiger immer auf Mitternacht stehen, eröffnet sich für Nora plötzlich die Möglichkeit herauszufinden, was passiert wäre, wenn sie sich anders entschieden hätte.
Jedes Buch in der Mitternachtsbibliothek bringt sie in ein anderes Leben, in eine andere Welt, in der sie sich zurechtfinden muss. Aber kann man in einem anderen Leben glücklich werden, wenn man weiß, dass es nicht das eigene ist?
Mit dem Glück hat Nora Seed, die Protagonistin des Romans, vor lauter Lebensangst so ihre Probleme. Vor allem hätte sie gerne eine Aufgabe gehabt, die ihrem Leben Sinn verliehen hätte. Der Autor drückt es so aus: »In ihr schwärte eine Seelenkrankheit. Ihr Inneres erbrach sich selbst.« Matt Haig zählt in seinem Roman zunächst die Stunden »am Fließband der Verzweiflung« herunter, bis Nora ihren Entschluss, Selbstmord zu begehen in die Tat umsetzt. In ihr steckt die feste Überzeugung, dass sie einfach kein Talent zum Leben und das Universum keine Verwendung für sie hat.
Mich hat diese Buchidee fasziniert, dass zwischen Leben und Tod eine Bibliothek mit schier endlos vielen Büchern liegen könnte, von denen jedes die Chance bietet, ein anderes Leben auszuprobieren, dass man hätte leben können.
Nora ist enttäuscht, als sie feststellt, dass sie nicht einmal für den Tod Talent hat. Da ist wieder das allzu vertraute Gefühl, nicht gut genug zu sein. Als ihr die Bibliothekarin sagt, der Tod sei außerhalb der Bibliothek, möchte Nora die Mitternachtsbibliothek gleich wieder verlassen, denn ihr Wunsch zu sterben ist riesengroß. Doch die Bibliothekarin erklärt ihr: »So funktioniert das nicht. […] Du gehst nicht zum Tod. Der Tod kommt zu dir.«
Als Nora begreift, dass die Bücher dieser wundersamen Bibliothek Portale zu all den Leben sind, die ihr offengestanden hätten, nimmt sie verschiedene Chancen wahr, um zu sehen, wie alles gekommen wäre, wenn sie sich anders entschieden hätte – wenn sie beispielsweise ihre Schwimmkarriere doch eingeschlagen hätte oder Gletscherforscherin geworden wäre oder mit ihrer Freundin nach Australien gegangen wäre oder Dan geheiratet hätte oder … oder …? Jedes alternative Leben, das sie ausprobiert, verhilft ihr zu neuen Erkenntnissen. Immer mehr schält sich heraus, welche Reue- und Schuldgefühle Nora mit sich herumträgt, die verhindern, dass sie sich glücklich, gemocht und wertvoll fühlt.
Auch wenn mich die Ausführung des Romans wegen fehlender Tiefgründigkeit nicht in gleichem Maße angesprochen hat wie die Idee der Mitternachtsbibliothek an sich, war das Gedankenspiel als leichte Lektüre in der Hängematte geeignet. Die Geschichte vermag wohl deshalb nicht wirklich mitzureißen, da jeder weiß, dass es nicht möglich ist, sein Leben rückwirkend anders zu leben. Es gilt das geflügelte Wort: Leben ist wie Zeichnen, nur ohne Radiergummi.
Letztlich kann niemand sagen, ob er mit einer anderen Lebensentscheidung glücklich geworden wäre, da das unbewusste Innere eines Menschen und auch die zwischenmenschlichen Interaktionen viel komplexer sind, als sie je in einem Roman geschildert werden könnten. Wir leben alle vorwärts, was glücklicherweise bedeutet, dass wir – egal, was wir in den vergangenen Lebenstagen bereuen mögen – ab dem heutigen Tag unser Leben verändern können. Wir können jederzeit ein neues Kapitel oder gar ein ganz neues Buch in unserem Leben aufschlagen. Dafür bedarf es keiner Mitternachtsbibliothek, nur ein wenig Mut, etwas Neues anzufangen.
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