Buchvorstellung – »Der Vagusschlüssel zur Traumaheilung«

(Gopal Norbert Klein)
»Fast jeder ist heute von Bindungs- und Entwicklungstrauma betroffen. Diese erschreckende Erkenntnis führte den bekannten Traumatherapeuten Gopal Norbert Klein zu einer einfachen, höchst wirksamen Heilmethode, dem ›Ehrlichen Mitteilen‹: Wir teilen anderen in einem sicheren Rahmen ungefiltert mit, was in uns wahrnehmbar ist. Warum ist das heilsam? Trauma entstand, weil wir als Kind im Kontakt mit den Eltern erlebten, nicht okay zu sein. Unser Nervensystem geriet in einen Alarmzustand, der bis heute anhält. Heilung geschieht nun, sobald wir den Kontakt mit anderen endlich als sicher erleben. Der Vagusnerv wird aktiv, wir fühlen uns entspannt und bereit für das Leben. Dieses Buch zeigt den Weg – informativ, praxisnah, ermutigend.«
Laut diesem Klappentext findet sich in dem 192-seitigen Ratgeber Der Vagusschlüssel zur Traumaheilung: Wie »Ehrliches Mitteilen« unser Nervensystem reguliert, GU Verlag, 2022 München, Hilfe zur Selbsthilfe bei einem Bindungs- und Entwicklungstrauma. Doch auch wer zu den wenigen Glücklichen gehört, die nicht davon betroffen sind, kann aus den Informationen über den Vagusnerv – den Schüssel zur Heilung – großen Nutzen ziehen.
Wie kann es zu einem Bindungs- und Entwicklungstrauma kommen?
Das erklärt Prof. Dr. Dr. Gerald Hüther im Vorwort: Wenn schon während der Kindheit die Aktivität des parasympathischen Nervensystems unterdrückt wird, da die Wahrnehmung von Stress, Bedrohung und Gefahr im familiären Umfeld das sympathische Nervensystem aktiviert, das daraufhin alles in Gang setzt, was zum Überleben nötig ist, kommen die Betroffenen oft aus diesem Dauererregungszustand für den gesamten Rest ihres Lebens nicht wieder heraus – es sei denn, es gelingt ihnen, das beruhigende Vagussystem wieder hochzufahren, das für Heilung, Wohlbefinden und Freude sorgt. Wichtigste Voraussetzung dafür: das Gefühl der Sicherheit.
Ein Bindungstrauma entsteht nicht dadurch, dass die Eltern ab und zu die Nerven verlieren, sondern wenn die Eltern selbst wenig beziehungsfähig sind und aufgrund eigener Traumatisierungen dauerhaft destruktiv auf ein Kind einwirken, sodass es als erwachsener Mensch ebenfalls nicht kontakt- und beziehungsfähig ist, da in der unbewussten Tiefe die Nähe zu anderen Menschen mit Stress oder sogar Gefahr verschaltet wurde. Eng damit verknüpft sind Kernemotionen wie Wut und Traurigkeit. Wenn diese Emotionen von Kindesalter an unterdrückt wurden, fehlt das Gefühl der Lebendigkeit. Die dauerhaft unterdrückte eigene Emotionsenergie verschwindet nämlich nicht einfach so, sondern sucht sich Nebenkanäle wie beispielsweise Krankheiten, Süchte oder Depressionen mit Todessehnsucht.
Es gibt zwei Notlösungen bzw. Überlebensstrategien, die Kinder wählen können – manche pendeln auch zwischen den beiden Ausprägungen »überabgegrenzt« bzw. »überangepasst« hin und her: Entweder verleugnen Kinder das Bedürfnis nach tiefer Verbindung und ziehen sich in sich selbst zurück oder sie verbiegen sich dermaßen, indem sie die eigenen Bedürfnisse ausblenden, dass sie die Bindung zu den Eltern retten können. Als Erwachsene leben Kinder auf Kosten ihres Lebensglücks diese alten Muster weiter, indem sie entweder in übermäßiger Abgrenzung ständig Distanz zu anderen Menschen herstellen, da sie unbewusst glauben, dass von jemandem, der einem nahekommt, grundsätzlich eine Gefahr ausgeht, oder es kommt zu einer übermäßigen Anpassung und Verleugnung des eigenen authentischen Selbstausdrucks, quasi zu einer Verschmelzung mit dem Partner, nur um die Bindung auf keinen Fall zu verlieren.
Um mit den schmerzhaften Anteilen in sich selbst nicht in Berührung kommen zu müssen, werden Kompensationsstrategien verfolgt. Gemäß dem Autor leben in unserer Gesellschaft ganze Wirtschaftszweige davon, Kompensationen anzubieten (zum Kaufen, Betäuben und Ablenken durch Unterhaltung). Das ist natürlich keine echte Lösung und hält Betroffene klein und abhängig, was Wirtschaft und Politik in die Hände spielt. Gopal Norbert Klein empfiehlt daher »echten Austausch, der stark, ganz und unabhängig macht«.
»Ehrliches Mitteilen« – was ist das für eine Heilmethode?
Es bedeutet nicht, alles mitzuteilen und seine Grenzen zu überschreiten, sondern so zu bleiben, wie man ist, dies aber ehrlich zu kommunizieren. Unter dem Vagusschlüssel versteht der Autor, dass das, was an Gefühlen in uns ist, was uns gegenwärtig innerlich wirklich bewegt, in einer sicheren Umgebung ehrlich zu kommunizieren:
»Die Not, die wir in uns spüren, muss nicht analysiert und durch eine andere Art zu denken oder sich zu verhalten aufgelöst werden, sie muss lediglich kommuniziert werden.«
So einfach? Ja, so einfach.
An dieser Stelle ist mir schlagartig klargeworden, dass mein Partner und ich uns gegenseitig durch unsere liebevolle, vertrauensvolle und ehrliche Beziehung zur Heilung verholfen haben. Denn wir konnten beide die Erfahrung machen, dass wir vom anderen auch angenommen werden, wenn wir ihm unsere schwache Seite zeigen, wenn wir eingestehen, dass wir immer wieder Gefühle der Hilflosigkeit und Ohnmacht haben, uns Versagens- oder Zukunftsängste plagen, dass uns ganz normale soziale Kontakte stressen oder dass wir ein übergroßes Bedürfnis nach Nähe haben und gleichzeitig große Angst verspüren, den Partner zu verlieren, weil wir eventuell zu viel klammern und uns vielleicht nicht gut genug bzw. auf Augenhöhe fühlen. Intuitiv haben wir es richtig gemacht und es unserer Liebe zugeschrieben, dass wir dadurch unsere Partnerschaft unglaublich vertiefen konnten.
Gopal Norbert Klein erklärt das so: Das Mitteilen dieser inneren Bewegungen selbst ist schon die Lösung bzw. stellt schon die Transformation dar. Während Verdrängung und Kompensation uns so weit stabilisieren können, dass wir trotz eines Bindungstraumas relativ gut zurechtkommen, sind Heilung und Erfüllung dann doch noch etwas ganz anderes – meiner Ansicht nach der entscheidende Unterschied, der echtes Glücklichsein ausmacht.
Es geht also darum, einen vertrauenswürdigen Menschen zu finden, dem sich ein Betroffener wirklich ehrlich mitteilen kann, und um das offene, stille Zuhören, um dann in neuen Erfahrungen zu erleben, dass dies fürs Nervensystem keine Gefahr mehr darstellt. Das können Liebespartner oder Freunde sein, aber auch jemand aus einer im Buch beschriebenen Selbsthilfegruppen, von denen immer mehr gegründet werden.
Im zweiten Teil seines Ratgebers geht Gopal Norbert Klein vertiefend auf den Vagusschlüssel ein, betont aber, dass stressreduzierende Vagusübungen allein nicht ausreichen, um das eigene Leben tiefgreifend zu verändern, da ein Bindungstrauma auf destruktiven Beziehungsmustern beruht, die als mentale Strukturen gefestigt wurden. Nur durch neue positive Erfahrungen auf Beziehungsebene können diese alten Muster überschrieben werden, da nur im sicheren und vertrauensvollen Beziehungskontext das Gefühl der Sicherheit mitvermittelt werden kann.
Mich hat diese Erkenntnis tief beeindruckt, dass erst diese neue Erfahrung der Sicherheit, während ich im Kontakt mit einem anderen Menschen bin, es meinem Körper erlaubt, jahrzehntelang festgehaltene Spannungen zu lösen. Dies führt dazu, dass das früher so gebeutelte Nervensystem die Entwicklung auf Beziehungsebene nachholt, die als Kind nicht möglich war. Interessant auch, dass unser Vagusnerv nur anspringt, wenn unser Körper die Umgebung als sicher einstuft und diese Einstufung nicht unserem bewussten Willen unterliegt. Nur über das Fühlen auf tieferen Bewusstseinsebenen kommt das gewünschte Ergebnis des Wohlbefindens zustande, das mehr ist als eine vorübergehende Entspannung durch Infrarotsauna, Meditation oder Yogasession. Denn:
»Heilung geschieht im Bindungskontext – und nur dort.« (Gopal Norbert Klein)
Ich muss zugeben, ich war lange Zeit der Ansicht, ich könne allein eine Lösung finden, ohne schmerzhaften Beziehungskonflikten begegnen zu müssen. Auch ich habe mir lange Zeit die Geschichte erzählt, dass ich in der Welt und in der Begegnung mit anderen nicht sicher bin; wenn ich ganz ehrlich bin, erzähle ich mir diese Geschichte heute noch, denn ich verspüre noch oft keine Lust auf Kontakte und Dialoge, lese und schreibe viel lieber Bücher und fühle mich mit mir allein und meiner Gedankenwelt sicherer als in der Begegnung mit anderen und den dabei entstehenden Gefühlen. Das war schon als Kind so und deswegen rutsche ich immer wieder in dieses alte Muster ab. Doch ich kann inzwischen auch auf andere zugehen, weil ich erfahren habe, dass gesunder Austausch eine Frage der Balance ist – zwischen Nähe und Distanz, zwischen oberflächlichem und tieferem Austausch – je nachdem, wie es sich stimmig anfühlt.
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