Buchvorstellung – »Wir informieren uns zu Tode«

Das 240-seitige Buch Wir informieren uns zu Tode: Ein Befreiungsversuch für verwickelte Gehirne, Herder Verlag, Freiburg 2022, liest man nicht zum Vergnügen, sondern weil man selbst vielleicht schon die Erfahrung gemacht hat, dass die Informationsflut von allen Seiten immer größer wird und zu einem Stressor im Alltag werden kann.
Die Autoren Gerald Hüther, ein bekannter Neurobiologe und Gründer der Akademie für Potentialentfaltung, und der Medien- und Kommunikationsexperte Robert Burdy möchten Klarheit darüber verschaffen, was Menschen helfen kann, sich aus diesen Verwicklungen des Gehirns durch Informationsflut zu befreien bzw. sich selbst weiterzuentwickeln. Ob ihnen das gelungen ist, muss jeder selbst beurteilen. Klarheit bedeutet für mich unter anderem, etwas kurz und prägnant ausdrücken zu können und gedankliche Wiederholungen in Dauerschleife möglichst zu vermeiden. Dennoch finden sich Denkanstöße, wie der Weg aus der Überflutung des Gehirns mit zu vielen und zu widersprüchlichen Informationen von außerhalb aussehen könnte: durch eine Rückbesinnung auf unser Inneres.
Teil 1 – Absturz
»Was da alles tagtäglich, stündlich, minütlich an Informationen auf uns hereinprasselt, kann sehr schnell zu einer Flutwelle werden, in der wir ertrinken. Menschen, die sich angesichts dieser Überflutung nicht mehr miteinander verständigen und sich auf das einigen können, worauf es für ein friedliches Zusammenleben ankommt, werden ihre jeweiligen Interessen noch stärker durchzusetzen versuchen als bisher und gegebenenfalls auch übereinander herfallen. So laufen wir Gefahr, uns zu Tode zu informieren.«
Wir leben im 21. Jahrhundert, dem Informationszeitalter, auch als Computerzeitalter oder Digitalzeitalter bezeichnet, indem ein weltweiter Wissensaustausch rund um die Uhr möglich gemacht wurde. Fast die Hälfte der Weltbevölkerung nutzt soziale Medien und rund drei Viertel der Bevölkerung nutzten 2020 das Internet als Informationsquelle, wo die Grenze zwischen Information und Werbebotschaft meist gar nicht mehr zu erkennen ist.
Die Folgen: Die Aufmerksamkeitsspanne wurde bei den meisten Zeitgenossen auf das Lesen einer Schlagzeile reduziert. Durch die sozialen Medien wird die Digitalisierung zu einem kollektiven Egotrip, einer »Ego-talisierung«, oft auch zu einer »Ansammlung digitalisierter Einsamkeiten«. Und Einsamkeit ist statistisch gesehen eine noch tödlichere Gefahr als Luftverschmutzung, Übergewicht oder Alkoholmissbrauch. Wir Menschen »informieren« uns buchstäblich zu Tode, weil wir immer mehr die Verbundenheit zur Natur und zu anderen Menschen mangels lebendiger Begegnung verlieren.
Teil 2 – Reset
»Je vieltöniger und vielstimmiger, je farben- und formenreicher unsere Welt ist und je besser wir in der Lage sind, diese Vielfalt und Buntheit mit all unseren Sinnen aufzunehmen, desto intensiver erleben wir uns als Teil dieser lebendigen Welt. Wer nichts mehr von all dem mitbekommt und nur noch auf das achtet, was ihm nützlich, brauchbar und gewinnbringend erscheint, wird auch nicht in der Lage sein, diese Vielfalt natürlicher Lebensformen zu schützen und zu bewahren.«
Die Autoren sprechen sich für eine Rückbesinnung auf das Menschsein aus, denn im Gegensatz zu Robotern und Automaten hätten wir Menschen tief in uns angelegte lebendige Bedürfnisse. Sie schlagen vor, dass wir uns mit möglichst vielen, möglichst unterschiedlichen Menschen darüber austauschen, wie unser Leben und unser Zusammenleben gelingen können. So könne sich eine eigene Vorstellung herausbilden, wer man sein und wofür man leben wolle. Solche menschlichen Gemeinschaften seien »Potentialentfaltungsgemeinschaften«: Auf jede und jeden komme es an, aber weiter gehe es nur gemeinsam und wenn neue Kulturleistungen an andere weitergegeben würden.
Teil 3 – Neustart
»In uns selbst gibt es ein tiefes Wissen, das unseren lebendigen Bedürfnissen und Empfindungen einen Wert verleihen und sie aus der Vielfalt der von außen auf uns herabströmenden und in uns gesammelten Informationen heraushebt.«
Dieses Gespür für das, was uns guttut und was uns lebendig erhält, soll laut Autoren darüber bestimmen, wie und wofür wir uns im Informationsdschungel entscheiden, nicht die »objektive Faktenlage«, die eh nur eine subjektive Illusion sei. Eine objektive Information ist eine theoretische Unmöglichkeit, denn Wissenschaftler gehen davon aus, dass es für uns knapp acht Milliarden Erdenbürger gar keine gemeinsame Realität gibt, sondern jede einzelne Wahrnehmung immer nur die Realität des Wahrnehmenden ist – was hieße, dass in den menschlichen Köpfen acht Milliarden Welten existieren.
Versteifen wir uns also nicht auf sogenannte objektive Informationen, die zumeist mit bestimmten Absichten, Interessen, zum Zweck der Manipulation der Empfänger verbreitet werden, sondern gehen wir in uns und verbinden wir uns wieder mit unseren lebendigen, wahrhaftigen Bedürfnissen. An dieser Stelle ist mir ein Zitat des Psychoanalytikers Erich Fromm eingefallen:
»Die Welt ist nur noch da
zur Befriedigung unseres Appetits:
Sie ist ein riesiger Apfel,
eine riesige Flasche,
eine riesige Brust,
und wir sind die Säuglinge,
die ewig auf etwas warten,
ewig auf etwas hoffen
und ewig enttäuscht werden.«
(Die Kunst des Liebens, Band 9 der
Erich-Fromm-Gesamtausgabe, S. 491,
herausgegeben 1999 von Rainer Funk)
Entwickeln wir uns und werden wir erwachsen: Pfeifen wir auf die Ablenkungsangebote bzw. die »billigen Lösungen« der Informationsindustrie, brechen wir aus dem Gefängnis aus, das wir uns ins eigene Gehirn gebaut haben, statt »verwickelt« bzw. »unterentwickelt« zu bleiben, weil wir unbedingt dazugehören wollen und nicht als unmodern gelten wollen, nur weil wir nicht ständig über alles informiert oder nicht topmodern sind. Haben wir keine Angst davor, innerhalb der heutigen Informationsgesellschaft unbedeutend zu sein oder etwas zu verpassen.
Wir sind frei, wenn wir trotz Mainstream unseren eigenen Werten treu bleiben, wenn wir uns mithilfe digitaler Geräte nicht ausschließlich in virtuellen Welten verlieren, sondern eigenverantwortlich das tun, was unserem Innersten guttut, und uns so als Gestalter des eigenen Lebens erleben. Ich nenne dies Rüssel hoch!
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