Buchvorstellung – »Hilfe, unser Essen wird normiert!«

Clemens G. Arvay (* 22. Juli 1980 in Graz; † 18. Februar 2023) war ein österreichischer Sachbuchautor, der Landschaftsökologie und Pflanzenwissenschaften in Wien und Graz studierte. In seinen Publikationen rückt der Biologe die Zusammenhänge zwischen Mensch und Natur, insbesondere die gesundheitsfördernden Effekte des Kontakts mit Pflanzen, Tieren und Landschaften in den Mittelpunkt.
In seinem 240-seitigen Sachbuch Hilfe, unser Essen wird normiert! Wie uns EU-Bürokraten und Industrie vorschreiben, was wir anbauen und essen sollen, Redline Verlag, München 2014, erklärt Clemens Arvay die historische Entwicklung der Kulturpflanzen bis in die Gegenwart, in der Saatgutkonzerne, Lebensmittelkonzerne und Politik in wachsendem Maße darüber bestimmen, was auf unseren Tellern landet.
»Wir verlieren nach und nach unser Menschenerbe: die Vielfalt unserer Samen!«, schreibt die bekannte Köchin Sarah Wiener im Vorwort und bedauert, dass die Intensität und Vielfalt des Geschmacks der Obst- und Gemüsesorten zusehends aufgegeben wurden zugunsten perfekter Optik, einheitlicher Reproduzierbarkeit und langer Haltbarkeit. Was heute in den Supermarktregalen zu finden sei, habe nichts mehr zu tun mit schmackhaften sonnengereiften Tomaten: »Heute sind Tomaten grün-rote Billardkugeln, die schnittfestes Wasser beinhalten.« Ähnlich äußerte sich der österreichische Kabarettist Roland Düringer, indem er Supermarkt-Tomaten als den »vierten Aggregatzustand von Wasser« bezeichnete.
Die Vergangenheit – Pflanzen schreiben Geschichte
Clemens Arvay nimmt uns zuerst mit in seinen Garten und beschreibt uns, was für Schätze darin gedeihen. Zum Beispiel die Goldene Kugel, eine alte Tomatensorte mit leuchtenden goldgelben Früchten, die im 15. Jahrhundert ihren Weg von den Azteken zu uns fand. Früher waren alle Tomaten gelbschalig, worauf noch heute die italienische Bezeichnung pomodoro für Goldapfel zurückgeht. Wie Arvay erklärt, soll die angezüchtete knallrote Optik die menschlichen Urinstinkte aktivieren und das Verbrauchergehirn in den Kaufmodus schalten!
Weiter wächst in Arvays Garten eine Paprikapflanze namens Sweet Chocolate, die beim Verzehr durch eine besonders süße, schokoladenähnliche Note besticht. Ein Elefant ist ebenfalls in seinem Garten anzutreffen. Es handelt sich um eine Pfefferoni, die aufgrund ihrer elefantenhautähnlichen Fruchtschale den Namen Elephant trägt. Begeistert erzählt er weiter:
»Kürbisse aus aller Damen und Herren Länder wachsen dort: der Ungarische Blaue mit seiner in Türkis gehaltenen Schale und dem leuchtend orangen Fruchtfleisch; der urwüchsige Lange von Neapel, ein wahrer Gigant unter den Kürbissen, mit feurig-orange geflammter Zeichnung auf dunkelgrüner Schale; der Muscade de Provence, nicht minder stark wachsend, mit riesigen, tief eingekerbten Früchten; die Trompete von Albenga, deren Früchte eher einem gewundenen Posthorn als einem Kürbis gleichen. […] Meine Tomatenpflanzen tragen Namen wie Ochsenherz, Dattelwein, Schwarzer Prinz oder Grünes Zebra. […] Andere Arten, die in meinem Garten gedeihen, sind in den meisten Küchen Mitteleuropas weitgehend unbekannt, wenngleich sie auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz problemlos wachsen oder früher sogar dort kultiviert wurden. Unter diesen Exoten befinden sich der Erdbeerspinat, die Andenbeere, die Tomatillo, die Stachelgurke und knallrote afrikanische Auberginen, die oft fälschlicherweise für Paprika gehalten werden. Mais mit pechschwarzen oder schneeweißen Kolben ist ebenso anzutreffen wie verschiedene Blattgemüse mit langer Tradition, die selbst dem tiefsten Winter trotzen. Grün im Schnee oder Red Giant – so heißen zwei der frostharten und wohlschmeckenden Spezialitäten, die jedes Jahr ihre grünen Blätter aus der Schneedecke in meinem Garten strecken und mich bis zum Frühjahr mit frischen Vitaminen versorgen.«
Das sind alles Schätze, deren Existenz heute, nach Tausenden von Jahren, in denen etwa 5.000 kultivierte Pflanzenarten entstanden, stark gefährdet ist. Etwa 700 sind Kulturpflanzen im engeren Sinne, die vor allem der menschlichen Ernährung dienen. Heutzutage wird 90 Prozent des Bedarfs an pflanzlichen Nahrungsmittel mit nur noch 20 Arten gedeckt!
Die Gegenwart – Konzerne machen Profite
»Die Kinder werden nicht mehr wissen, wie eine Tomate geschmeckt hat, oder ein Apfel. Alles wird anders schmecken.« So äußerte sich Karl Otrok, ein ehemaliger Produktionsdirektor beim Saatgutkonzern Pioneer. Und der britische Pflanzenforscher Ben Gable ist überzeugt, dass die Menschheit ohne die alten samenfesten Pflanzensorten den Klimawandel nicht überleben kann. Doch es sind fast nur noch hybridisierte Designerpflanzen erhältlich. Vor allem bei Gemüse werden kaum mehr samenfeste Sorten eingesetzt. Gerade diese könnten aber in Zukunft überlebensnotwendige genetische Ressourcen darstellen, da in ihnen beispielsweise Informationen für Resistenzen gegenüber Schädlingen gespeichert sind. Arvay berichtet:
»Als dort [Asien] der Reisanbau dem Rice Grassy Stunt Virus praktisch erlag, wurden am internationalen Reis-Institut in Kalkutta in Indien 6.000 Reisproben auf Resistenzen gegen das Virus überprüft. Nur eine einzige Reissorte enthielt in ihrem genetischen Code die entsprechende Information zur Resistenz. Es handelte sich um eine halbwilde, alte Kultursorte. Sie war der Ausweg aus der Reis-Katastrophe.«
Die Ära der sogenannten Hybridtechnologie begann Anfang des 20. Jahrhunderts und führte zu einer rasanten Vorherrschaft der Agrarkonzerne. Eine Hybride ist eine agrarisch genutzte Pflanze, die für nur eine einzige Saison wirtschaftlich außerordentlich günstige Eigenschaften aufweist. Solche Züchtungen sind biologisch degeneriert und können sich nicht mehr genetisch stabil fortpflanzen. Am Ende der Saison sind die Samen, die in ihnen heranreifen, unbrauchbar. Der Schlüssel zum jeweiligen Züchtungsergebnis ist nur den Konzernen selbst bekannt. Wer die ertragreichen Turbosorten anbauen will, muss sich in die Abhängigkeit der Saatgutindustrie begeben, nicht nur was das Saatgut betrifft, das ständig nachgekauft werden muss, sondern auch die speziell benötigten Dünge- und Spritzmittel.
Erde war gestern. Das Designersaatgut der Zuchtkonzerne benötigt nicht einmal mehr Erde, um zu wachsen. Die Tomatenpflanzen hängen sozusagen am Chemie-Tropf. Sie wurzeln im Gemüseproduktionslabor in einem Wachstumssubstrat, dessen Parameter rund um die Uhr von Computern überwacht und gesteuert werden. Nicht nur Wasser und synthetische Nährstoffe werden über den Tropf verabreicht, sondern auch Pestizide gegen Pilzinfektionen wie Mehltau.
Leider hat sich das Hybridsaatgut aus der Agrarindustrie auch in der ökologischen Landwirtschaft breitgemacht – also in der Landwirtschaft nach EU Richtlinien. Selbst bei Biogemüse findet sich vorwiegend Hochglanzgemüse aus Hybridzüchtung, während samenfestes Saatgut in der Biolandwirtschaft eher die Ausnahme ist. Oft wird nicht einmal das Saatgut biologisch produziert und darf aufgrund von Ausnahmegenehmigungen verwendet werden! Und selbst Proben von Bio-Babynahrung waren zudem CMS-positiv, was bedeutet, dass hier Gentechnik angewandt wurde.
Die EU sieht in der CMS-Methode allerdings keine gentechnologische Methode, da es »nur« zur Übertragung mitochondrialer DNA mittels Zellfusion kommt. Unter Gentechnik versteht die europäische Gesetzgebung, so Arvay, ausschließlich die direkte Manipulation der DNA im Zellkern. Anstatt den Schatz samenfester Sorten regional zu bewahren und zu fördern, richte sich die EU-Politik offenbar in erster Linie nach den Bedürfnissen der Agrarindustrie!
Angeblich sind wir Konsumenten verantwortlich für den Normierungswahn. Tatsache ist jedoch, dass uniformes Obst und Gemüse – dessen Größe, Gewicht und Form sich innerhalb sehr strenger Normen bewegen muss – den Bedürfnissen der Handelsunternehmen angepasst wurden. Gurken sollen deshalb gerade sein, weil so größere Mengen in Kisten gestapelt werden können. Abgerundete Möhren lassen sich auf schnellen Fließbändern besser sortieren und verpacken. Standardapfel und Standardbirne lassen sich besser in die üblichen plastikverschweißten 6er-Packs schichten. Die riesigen Mengen an Normausschuss werden einfach entsorgt, obwohl das kleinere Obst oder das krumme Gemüse noch bestens gegessen werden könnte – eine riesengroße Verschwendung!
Die Zukunft – Menschen schaffen Vielfalt
Im zweiten Teil des Buches bringt Clemens Arvay konkrete Beispiele einer alternativen Landwirtschaft und zeigt, was wir als Verbraucher tun können, um diese zu unterstützen. Die Refugien für samenfeste Kulturpflanzen, die er 2012 und 2013 auf seinen Reisen in ganz Europa besucht hat, sind ein Hoffnungsschimmer. Dazu zählen beispielsweise Pro Specie Rara, Dreschflegel, Arche Noah und viele weitere.
Uns Konsumenten fordert Clemens Arvay auf, solche Öko-Initiativen zu unterstützen, indem wir unser Obst und Gemüse lieber dort einkaufen als im Supermarkt, da sie uns Alternativen zum normbesessenen Großhandel bieten, der die Biobauern wirtschaftlich in die Knie zwingt.
Clemens Arvay zeigt uns, wie auch ein privater Garten zu einem Refugium für alte Pflanzensorten werden kann, wie sie weiter oben genannt wurden. Im Anhang seines Buchs sind Saatgut-Bezugsquellen und Ansprechpartner zum Erhalt der Sortenvielfalt zu finden.
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