Buchvorstellung – »Die revolutionäre Kraft des Fühlens«
Maria Sanchez, die Autorin des 208-seitigen Ratgebers Die revolutionäre Kraft des Fühlens, GU Verlag, München 2019, wurde im andalusischen Málaga geboren und kam im Alter von fünf Jahren nach Deutschland. Die Traumatherapeutin und Gründerin der Emotionsbasierten Spiritualität lebt in Hamburg, wo sich auch ihr Ausbildungs- und Seminarzentrum befindet. Mit ihrer EssentialCore-Therapie (essential core für Wesenskern) unterstützt sie Menschen mit Symptomen wie beispielsweise Süchten, Traumata, Ängsten und Depressionen sich selbst auf eine spezielle Weise emotional begleiten zu lernen, um so zu einem Experten für sich selbst werden zu können. In ihrem Ratgeber erklärt und skizziert Maria Sanchez bildlich, wie so eine Selbsttherapie aussehen könnte. Es lohnt sich, das Buch zu lesen und den gesamten inneren Navigationsprozess samt den Übungen nachzuvollziehen.
In dieser Buchvorstellung greife ich nur einen Höhepunkt heraus, der bei mir persönlich einen Aha-Moment erzeugt hat. Da jedes Kapitel auf das vorherige aufbaut, werde ich wie Maria Sanchez nicht darum herumkommen, zuerst psychologische Begrifflichkeiten zu erklären. Dafür verwende ich nachfolgend die Definitionen aus dem Anhang des Ratgebers und bedanke mich bei Maria Sanchez für die Klarheit, mit der sie dadurch Psychologisches für uns verständlich macht:
Psychologische Begrifflichkeiten von Maria Sanchez
Urwunde
Jedes Kind hat das seelische Grundbedürfnis, mit seinem ganzen Sein angenommen zu werden. Erfährt es dies nicht, verliert es seine Ganzheit. Es entsteht eine Urwunde. Fast jeder Mensch trägt sie in sich.
Gefühl – Emotion
Ein Gefühl ist eine Empfindung, die kommt und geht und die, im Gegensatz zur Emotion, nicht an biografische Ereignisse gebunden ist. Emotion ist der Oberbegriff für alles, was mit dem Fühlen von etwas Unangenehmen zu tun hat, dessen Ursprung in der Vergangenheit liegt. Anders als ein Gefühl löst eine Emotion eine länger anhaltende Reaktion aus.
Zu unseren sechs Grundgefühlen gehören: Freude, Angst, Wut, Traurigkeit, Scham und Ekel sowie alle Ausprägungen davon (etwa ein Genervtsein als feinere Ausprägung von Wut). Ein Gefühl kann entweder als eine Körperempfindung physisch wahrgenommen werden – wie Angst durch einen schnelleren Herzschlag, einen verkrampften Magen usw. – oder durch eine innere Atmosphäre, die für uns bereits spürbar, aber noch nicht als physische Körperempfindung greifbar ist – zum Beispiel Einsamkeit.
Das geliebte Kind
Es umfasst alle Eigenschaften, die wir in unserer Kindheit als erstrebenswert eingestuft haben, zum Beispiel leistungsstark, sympathisch, hübsch, schlank, zuvorkommend, schlau oder fröhlich zu sein. Aufgrund unserer Erfahrung mit unseren engen Bezugspersonen, wozu beispielsweise auch die im Kindergarten zählen, sind wir davon überzeugt, dass wir nur dann in Ordnung sind, wenn wir diesem geliebten Kind in uns entsprechen können. Es beinhaltet alle Wunschbilder, wie wir sein wollen. Ziel des geliebten Kindes in uns ist es, durch das Erfüllen von Vorstellungsbildern und Erwartungen unseren Platz in der Welt zu finden und dadurch Sicherheit zu erlangen.
Das ungeliebte Kind
Es steht für die Persönlichkeitsseiten in uns, die von den Erwachsenen abgelehnt oder als nicht erstrebenswert angesehen wurden, zum Beispiel wenn wir schwach, depressiv, übergewichtig, aggressiv, ängstlich oder neidisch sind. Es steht damit für alles, was wir nicht sein wollen. Da wir nach dem geliebten Kind in uns streben, fühlen wir uns vom ungeliebten Kind gestört und manchmal auch bedroht. Aufgrund unserer Erfahrung glauben wir, dass es uns daran hindert, in der Gemeinschaft willkommen und dadurch in Sicherheit sein zu können. Wie lehnen es deshalb ab und versuchen, uns so weit wie möglich von ihm zu distanzieren. Es gibt geduldete ungeliebte Kinder und verbotene ungeliebte Kinder.
Geduldete Gefühle und Emotionen
Gefühle und Emotionen, die dem ungeliebten Kind entsprechen, das dem geliebten Kind innerhalb des Schutzprogramms direkt im Kampf gegenübersteht. Aus Sicht des geliebten Kindes sind sie zwar nicht erlaubt, werden aber innerhalb des Schutzprogramms für den Kampf gegen das geliebte Kind gebraucht, weil sie das Schutzprogramm durch ein unbewusstes Hin- und Herbewegen zwischen unseren gewünschten und unerwünschten Persönlichkeitsseiten am Laufen halten. Deshalb haben sie ein Duldungsrecht.
Verbotene Gefühle und Emotionen
Gefühle und Emotionen, die dem ungeliebten Kind entsprechen, das wiederum zur Urwunde gehört. Da sie sich in seinem Hoheitsgebiet befinden, in das sich das ungeliebte Kind zurückgezogen und gänzlich von der äußeren Welt abgekehrt hat, lassen sie sich innerhalb des biografischen Schutz- bzw. Abschirmprogramms nicht behandeln, da sie darin kein Daseinsrecht und damit Kontaktverbot haben. Da das emotionale Überlebensprogramm nicht aus einer rationalen Überlegung heraus entstanden ist, sondern sich in emotional existenzieller Not unbewusst entwickelt hat, können wir es nicht durch eine willentliche Entscheidung verlassen.
Das Revolutionäre an der EssentialCore-Therapie
Maria Sanchez formuliert deutlich, dass es biografische Wunden gibt, deren Begleitung ein professionelles Gegenüber erfordert und bei denen es bedeutsam und notwendig ist, sich externe Hilfe zu holen. Doch selbst dann hält sie das Erlernen der emotionalen Selbstbegleitung für unverzichtbar, weil nach ihrer psychotherapeutischen Erfahrung Betroffene sonst nicht in eine gesunde Selbstermächtigung gelangen können. Die innere Selbstbegleitung wird benötigt, um in das Hoheitsgebiet des verbotenen ungeliebten Kindes überhaupt erst eintreten zu können. Erst dann könne mit dem schrittweisen Ausstieg aus dem Schutzprogramm des geliebten Kindes begonnen werden.
Das ist revolutionär, denn im Rahmen der heutigen Psychotherapie geht es vorwiegend darum, uns aus der schutzbedürftigen Sicht des geliebten Kindes bei emotionaler Überforderung selbst regulieren zu lernen bzw. darum, die unerwünschten Persönlichkeitsseiten des ungeliebten Kindes im Sinne einer erfolgreichen Integration zu transformieren.
Für Maria Sanchez ist dies jedoch eine Wiederholung bzw. Fortsetzung der Macht-Ohnmacht-Verletzung, die als Kind erlitten wurde, da die ungeliebten Ich-Seiten der Persönlichkeit erneut abgelehnt bzw. als »falsch« deklariert werden. Damit werden sie weiterhin in unseren »Bewusstseinskeller« verbannt, von wo aus sie sich dann früher oder später durch andere unerwünschte Symptome wieder bemerkbar machen:
»Die unaushaltbaren Erfahrungen unserer Kindheit, nicht in unserer emotionalen Ganzheit angenommen worden zu sein, hat die Angst in uns entstehen lassen, im Kern nicht richtig zu sein. Um diese Urwunde nicht spüren zu müssen, gehen wir in einem Kampf gegen uns selbst. Dies erreichen wir, indem wir unserem geliebten Kind die Vormachtstellung einräumen. Die Hoffnung ist, dass wir doch noch »richtig« werden und unseren Platz in der Welt finden können, wenn wir den Eigenschaften des geliebten Kindes ganz entsprechen.«
Mein Aha-Moment im Buch »Die revolutionäre Kraft des Fühlens«
»Von einer anderen Warte aus betrachtet, sind die rebellischen Seiten unseres Hoheitsgebiets diejenigen, die vor vielen Jahre nicht gebrochen wurden. So verrückt es angesichts des Leidensdrucks, den wir durch sie erfahren können, auch klingen mag: Diese Kindseiten haben sich ihre emotionale Autonomie bewahrt.«
Aha! Dieser Satz hat mich mitten ins Herz getroffen, weil ich ihn in meinem biografischen Fall als erschreckend wahr, gleichzeitig jedoch als so befreiend empfunden habe! Ich hatte immer das belastende Gefühl, mein Wille sei in der Kindheit völlig gebrochen worden, was ich bisher für den Grund hielt, warum ich ein absolut angepasstes Leben geführt habe, sowohl als Kind als auch familiär in meiner ersten Ehe und beruflich gegenüber meinen zahlreichen Chefs. Dank Maria Sanchez habe ich nun entdeckt, dass da noch ein riesiges revolutionäres Kraftreservoir an bisher nicht erlöster Angst, nicht erlöstem Schmerz und nicht erlöster Wut in mir steckt, das sich bei mir auf einer Ersatzbühne auslebt, weil mein emotionales Schutzprogramm es bisher nicht zugelassen hat, dass ich mit meiner Urwunde in Berührung komme!
Wow! Es gibt in mir einen starken Wesenskern (essential core), der nach all den tiefen inneren Verletzungen, Demütigungen, Herabwürdigungen, Ungerechtigkeiten, Manipulationen und Ohnmachtserfahrungen noch immer vehement sagt: »Ich will das nicht! Ich will nicht, dass mir etwas gegen meinen Willen aufgezwungen wird!« Dieser kindlich-rebellische Wesenskern will sich auch jetzt, wo ich erwachsen bin, nicht dem Willen meines geliebten Kindes beugen, das mich über einen starken inneren Kritiker immer noch anzupassen versucht, um weiteren emotionalen Verwundungen vorzubeugen.
Mein ungeliebtes eigenwilliges Kind, das ich bisher nur als lästigen inneren Widerstand gegen gesunde Gewohnheiten wahrgenommen habe, will sich nicht »bekehren« oder »retten« lassen. Es hat sich innerlich schon immer gegen »emotionale Erpressung« aufgebäumt und ist sich selbst treu geblieben.
Mir kommen die Tränen, wenn ich daran denke, dass ich noch immer unbewusst in dieser kindlichen Macht-Ohnmacht-Schleife festhänge, meine biografische emotionale Verletzung bis heute weitergeblutet hat, auch wenn sich der innere Kampf als Erwachsene in einer Ersatzwelt abspielt. Höchste Zeit, den inneren Kampf einzustellen und meinem ungeliebten Kind die Freiheit zu schenken! Du darfst sein, du bist herzlich willkommen, du bist der wahre Kraftquell in mir – ein großartiges Geschenk! Danke, Maria Sanchez, für deine Hilfestellung zu ehrlicher Emotionsarbeit:
»Mir ist bewusst, wie verrückt dies klingen mag. Unsere Gesellschaft sieht schwierige Emotionen noch weitestgehend als etwas an, das man aktiv verändern muss, weil es ansonsten keine Besserung geben kann.
Während bei den geduldeten Emotionen eine Annäherung auf diese Weise noch möglich ist, beißen wir damit bei den verbotenen Emotionen auf Granit. Wir werden so keinen Zutritt zum Hoheitsgebiet erlangen können.
Denn es ist genau andersherum: Erst wenn wir selbst nicht mehr über das geliebte Kind die Position der Macht (Du musst dich verändern!) einnehmen und damit unsere biografische Verwundung unbewusst ständig wiederholen, besteht die Möglichkeit, dass das Kreisen in der Macht-Ohnmacht-Schleife in uns nachlässt.«
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